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Politik: Staatsversagen - Das Erdbeben bringt den türkischen Obrigkeitsglauben ins Wanken (Kommentar)

Niemand hat das Recht, den Staat in Frage zu stellen." Als der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit mit diesem Satz im Frühjahr eine Parlamentsdebatte über die Kleiderordnung in der Volksvertretung verhinderte, widersprach ihm noch kaum jemand in der Türkei.

Niemand hat das Recht, den Staat in Frage zu stellen." Als der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit mit diesem Satz im Frühjahr eine Parlamentsdebatte über die Kleiderordnung in der Volksvertretung verhinderte, widersprach ihm noch kaum jemand in der Türkei. Der Staat steht nach türkischer Auffassung über allem und ist auch für das Volk und seine Vertreter unantastbar - oder war es zumindest bisher.

Als Ecevit sich jetzt mit demselben Ausspruch gegen die öffentliche Kritik am staatlichen Katastropheneinsatz nach dem Erdbeben verwahrte, erntete er landesweit nur noch Empörung und bitteren Hohn. Die Bevölkerung fühlt sich in der Not vom "Vater Staat" im Stich gelassen. Das Erdbeben und der Fehlstart bei der staatlichen Katastrophenhilfe haben das bisher innige Verhältnis der Türken zur Obrigkeit grundlegend und möglicherweise auch dauerhaft zerrüttet.

Die Regierung habe das Katastrophengebiet wegen der schweren Schäden an Straßen und Telefonnetz zwei Tage lang nicht erreichen können, entschuldigte Ecevit sich nach tagelanger öffentlicher Kritik in einer Fernsehansprache an das türkische Volk. Doch niemandem in der Türkei war entgangen, dass etwa die Medien es mitsamt ihren Übertragungswagen und Satellitentelefonen binnen Stunden ins Krisengebiet schafften und ausländische Rettungsmannschaften teils schneller zur Stelle waren als die staatliche Krisenhelfer.

Ähnlich lahm klangen die Rechtfertigungen des Generalstabschefs; seine Weisung, die demoralisierenden Berichte über das verspätete Auftauchen der türkischen Armee am Katastrophenort umgehend einzustellen, wurden von den türkischen Medien erstmals nicht befolgt. Den schwersten Schlag aber versetzte Staatspräsident Süleyman Demirel mit seinem verunglückten Auftritt in Bolu dem türkischen Staatsglauben: Gegen den Willen Gottes könne der Staat nichts ausrichten, sagte der im Volksmund "Papa" genannte Präsident seinen Bürgern - und flüchtete in seiner Limousine vor der hilfesuchenden Bevölkerung. Die vom Fernsehen ausgestrahlte Szene erschütterte die Nation. Der bisher als allmächtig empfundene Staat stand auf einmal nackt im Scheinwerferlicht. Doch damit nicht genug: Als Kontrast bekamen die Türken zu sehen, dass sowohl das Ausland als auch die eigenen zivilen Institutionen ihnen schnell und wirksam zur Hilfe kamen. Die Reaktionen zeigen, dass dies nicht spurlos an der türkischen Psyche vorbeiging.

"Wir sind nicht alleine", brachte eine Zeitungsüberschrift die Dankbarkeit der Türken über die beispiellose internationale Hilfsaktion auf den Punkt - statt wieder einmal auf der "Stärke der mächtigen türkischen Nation" herumzureiten. Und die rasche und reibungslose Koordination der Freiwilligenhilfe durch die private türkische Lebensrettungsgesellschaft "Akut" öffnete vielen Türken wohl erstmals die Augen für die Leistungsfähigkeit einer zivilen Gesellschaft. Zivile Institutionen entstehen in der Türkei erst seit einigen Jahren, werden teils noch sehr misstrauisch beäugt und führen im öffentlichen Leben bisher ein Mauerblümchen-Dasein. Dies spiegelt die untergeordnete Rolle des Individuums im türkischen Staats- und Gesellschaftsverständnis wider: Ein Stempel unter einem Schreiben ist in der Türkei noch immer weit mehr wert als eine Unterschrift. Und während im westlichen Denken der Staat als Dienstleister für seine Bürger da ist, sahen die Türken den Staat noch aus osmanischer Tradition bisher als Verkörperung der Nation, der die Untertanen zu dienen haben.

Das Erdbeben hat diese Auffassung gewaltig ins Wanken gebracht.

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