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Politik: Stapellauf der Freiheit

Von Gerd Appenzeller

Mit der Zeitgeschichte ist es wie mit vielen Gemälden: Das Ganze erfasst man erst, wenn man ein Stück zurücktritt.

Wem haben die Deutschen ihre Einheit zu verdanken? Michail Gorbatschow, werden vermutlich die meisten antworten, denn ohne dessen Drängen auf friedliche Umgestaltung wäre der erfolgreiche zivile Protest der DDRBürger gegen den Machtapparat der SED nicht möglich gewesen. Die Antwort ist dennoch nur teilweise richtig, sagen inzwischen Zeithistoriker. Den Fall der Mauer haben viele Ereignisse bewirkt. Ganz am Beginn die Schlussakte von Helsinki, 1975, mit der Vereinbarung über die Menschenrechte in ganz Europa. Den mächtigsten Impuls aber verdanken die Freiheitsbewegungen im einstigen Ostblock der Etablierung der ersten unabhängigen Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich, am 31. August 1980 in Danzig. Das ist der Gründungstag von Solidarnosc, der Tag, an dem Lech Walesa, der Führer des Protestes, und der stellvertretende polnische Ministerpräsident Jagielski ein Abkommen unterzeichneten. Es garantierte Polens Arbeitern das Recht, ihre Interessen selber zu formulieren und dies nicht mehr der Kommunistischen Partei zu überlassen, die dieses Recht permanent verriet.

Zwei Jahre zuvor war Karol Wojtyla zum Papst gewählt worden. 1979, bei seinem ersten Besuch in der polnischen Heimat, rief Johannes Paul II. Millionen von Gläubigen immer wieder „Fürchtet euch nicht!“ zu, und die Menschen verstanden dies als Ermutigung. Die Ausrufung des Kriegsrechtes 1981 konnte das Ausscheren Polens aus dem kommunistischen Geleitzug nur verzögern, nicht aber verhindern. Auf der Danziger Leninwerft war, das zeigt sich jetzt, in den Monaten des Streiks der Stapellauf für die Freiheit nicht nur dieses Landes vorbereitet worden. Seitdem nämlich war die Ostgrenze der DDR fast schon eine Trennlinie zweier Systeme geworden.

Die bundesrepublikanische Politik hat lange nicht gewagt, Lech Walesa und die Solidarnosc offiziell zur Kenntnis zu nehmen. Willy Brandt, Friedensnobelpreisträger wie Walesa, wollte ihn 1985 in Polen nicht treffen, Hans-Jochen Vogel vermied sogar zweimal, 1984 und 1987, die Begegnung. Egon Bahr, geistiger Wegbereiter der sozialdemokratischen Ostpolitik, hat später die Fehleinschätzung der SPD bedauert. Er räumte ein, man habe Solidarnosc unterschätzt und zudem Sorge gehabt, den Sowjets Vorwände für ein Eingreifen in Polen zu liefern.

Die offizielle Außenpolitik, das ist zwischen Regierung und Opposition immer relativ unstrittig gewesen, muss den Kontakt mit jenen pflegen, die die Außen- und Sicherheitspolitik eines Landes beeinflussen. Unterhalb dieser Ebene aber, zum Beispiel auf der der Parteien, sind Kontakte mit allen relevanten Gruppen opportun. Und wenn sich in einem diktatorisch regierten Land gar ein Erstarken demokratischer Bewegungen abzeichnet, ist politische Unterstützung von außen weniger eine Frage des Mutes als der Solidarität der Demokraten. Alle deutschen Parteien haben das vor 30 Jahren in Spanien und Portugal praktiziert, als dort die Militärregime zu wanken begannen.

Rätselhaft bleibt, warum es vor einem Jahr erst der nachdrücklichen Ermunterung durch den polnischen Präsidenten Kwasniewski bedurfte, bis die Regierung Schröder/Fischer der orangenen Revolution in der Ukraine eine hilfreiche Hand bot. Die Angst vor einem militärischen Eingreifen Russlands, wie damals in Polen, kann es ja nicht mehr gewesen sein.

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