zum Hauptinhalt

Politik: Statistisch überfordert

Die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei gehen mit neuen Zahlen in die Offensive

Die Türkeikritiker im EU-Parlament machen Druck. In einem parlamentarischen Bericht, der im April in Straßburg debattiert werden soll, fordert der CDU-Europapolitiker Markus Pieper eine Korrektur der Regeln für die EU-Milliardenhilfe. Die Türkei habe in den vergangenen fünf Jahren aus der EU-Kasse schon 1,3 Milliarden Euro „Vorbeitrittshilfe“ erhalten. Für die nächsten sieben Jahre sind 5,5 Milliarden vorgesehen. „Die Gefahr ist groß, dass dadurch vollendete Tatsachen geschaffen werden“, sagt Pieper. Er warnt vor Entscheidungen, die Europa „in eine haushaltspolitische Falle führen.“ Für die Türkei müsse ein Stufenplan erarbeitet werden, der die Mittel künftig nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern auf spezielle Branchen und besonders bedürftige Regionen konzentriert – und zudem vom politischen Fortschritt abhängig macht.

„Wenn die EU mit ihrer Erweiterungspolitik so weitermacht wie bisher, dann droht ihr in einigen Jahren ein schmerzliches Erwachen“, sagt Pieper, der sich im Europaparlament mit den finanziellen Auswirkungen der Beitritte auf die EU beschäftigt. Der Europaabgeordnete hat beim wissenschaftlichen Dienst des EU-Parlaments eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Wenn sich an den gegenwärtigen Strukturen nichts ändere, dann müssen die wohlhabenden EU-Staaten allein für Rumänien, Bulgarien, die Kandidatenländer auf dem Balkan und die Türkei in der nächsten Finanzperiode von 2014 an insgesamt 150 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen. Fast zwei Drittel dieser Summe ginge an die Türkei. Mit seinen 70 Millionen Einwohnern ist es der größte und zugleich ärmste Beitrittskandidat in der Geschichte der EU. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf beträgt in der Türkei gerade mal 17 Prozent des durchschnittlichen BIP in der EU vor dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens.

Wenn die Türkei im nächsten Jahrzehnt tatsächlich beitreten würde, nähme die Bevölkerung der EU um rund 16 Prozent zu, die Wirtschaftsleistung aber nur um bescheidene 2,7 Prozent. Die unweigerliche Folge: Die gesamte EU würde ärmer – zumindest statistisch. Denn wenn ein bevölkerungsreiches, aber armes Land der EU beitritt, sinkt das durchschnittliche Pro-Kopf-BIP. Wirtschaftsschwache arme Regionen in den alten EU-Mitgliedstaaten werden zugleich „reicher“ und haben damit möglicherweise kein Anrecht mehr auf Mittel aus dem sogenannten Kohäsionsfonds. Nur die Regionen in der EU, deren Pro-Kopf-Leistungskraft unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts liegt, sind Nutznießer dieser speziellen Förderung, die dazu beitragen soll, die Kluft zwischen Arm und Reich in der EU allmählich zu überwinden. Rund ein Drittel der 25 speziell geförderten EU-Regionen bekäme nach einem Beitritt der Türkei keine Gelder mehr aus dem Kohäsionsfonds, rechnet Markus Pieper vor. In Deutschland zum Beispiel wären dann keine Gebiete mehr in der höchsten EU-Förderstufe. Insgesamt verlören sechs Regionen im Westen ihren besonderen Förderstatus. „Das erschüttert eines der wichtigsten Grundprinzipien der Europäischen Union: Die Solidarität der Mitgliedstaaten“, warnt der CDU-Europaabgeordnete.

Die Pro-Kopf-Leistungskraft der EU war schon 2004 nach der Osterweiterung um zehn wirtschaftsschwache Kandidaten und dann 2007 um die noch ärmeren Länder Rumänien und Bulgarien deutlich gesunken. Mit der Aufnahme der Türkei würde das BIP pro EU-Bürger, so hat der wissenschaftliche Dienst des Europaparlaments berechnet, um weitere 10,5 Prozent abzusacken. Die Aufnahme eines so großen, in weiten Landesteilen sehr armen Landes überfordere die EU – finanziell und politisch, glaubt der deutsche Christdemokrat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false