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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Ehefrau Elke Büdenbender nehmen in der Nikolaikirche am traditionellen Friedensgebet teil.

© Hendrik Schmidt/dpa

Steinmeier zu Montagsdemos: „Lieben wir das Land, geben wir aufeinander acht“

Zum 30. Jahrestag der Montagsdemos ruft der Bundespräsident in Leipzig zu zivilem Miteinander auf. Nur wenige Kilometer weiter, in Halle, fallen Schüsse.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dazu aufgerufen, die Erfahrungen der friedlichen Revolution vor 30 Jahren für das heutige Deutschland zu nutzen. Es sei "Zeit für neue Runde Tische in diesem Land", sagte Steinmeier im Leipziger Gewandhaus, wo am Mittwoch mit einem Festakt an den Beginn der Montagsdemonstrationen am 9. Oktober 1989 erinnert wurde.

Dort sei damals "voller Leidenschaft, unideologisch, offen und pragmatisch Politik gemacht" worden. Runde Tische "nicht zur Vermeidung von Streit, aber Streit mit Regeln und Respekt" seien das Mittel gegen "Dauerempörung und Hasstiraden" und "der richtige Weg, um unsere Demokratie stark zu halten". Steinmeier bezog sich damit auf die Verhandlungsrunden über die Zukunft der DDR in der Zeit der friedlichen Revolution 1989 und 1990.

Nach dem Vorbild Polens, wo bereits im Frühjahr 1989 der Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie ausgehandelt worden war, trafen sich ab Anfang Dezember die oppositionellen Gruppen mit der letzten SED-Regierung Modrow. Verhandelt wurde früh die Auflösung und Entwaffnung der DDR-Staatssicherheit, auch einen Verfassungsentwurf arbeitete der Runde Tisch aus.

Ein Solidarpakt der Wertschätzung gegen die Risse der Gesellschaft

Es sei ein Glück, so Steinmeier, dass die Wiedervereinigung und die Erfahrungen des Ostens auch den alten Westen der Bundesrepublik verändert habe - obwohl dort viele geglaubt hätten, alles gehe für sie weiter wie bisher. Diese "Erfahrungen des Ostens mit Umbruch und Veränderung" seien auch aktuell nötig. Ausdrücklich bezog er dabei auch die Zeit der DDR mit ein.

Die SED-Diktatur habe zwar "fortgesetzt Angst und Gewalt" bedeutet. Aber die soziale Wirklichkeit Ostdeutschlands sei auch "in manchem widerständig und eigenwillig, modern und fortgeschritten" gewesen, etwa ihre soziale und medizinische Infrastruktur. So sei es auch kein Zufall, dass besonders ostdeutsche Frauen "das wiedervereinte Deutschland an oberster Stelle geprägt und verändert haben".

Erinnerung an die Montagsdemonstrationen: Der Bundespräsident und seine Frau Elke Büdenbender nach der Rede im Gewandhaus. Links Sachsens früherer Ministerpräsident Kurt Biedenkopf.
Erinnerung an die Montagsdemonstrationen: Der Bundespräsident und seine Frau Elke Büdenbender nach der Rede im Gewandhaus. Links Sachsens früherer Ministerpräsident Kurt Biedenkopf.

© Hendrik Schmidt/dpa

Zu Beginn seiner Rede hatte Steinmeier sich auf den 9. Oktober 1989 bezogen, der ein "großer Tag in der deutschen Geschichte sei", zugleich aber angekündigt, er müsse zunächst über "das Heute" Deutschlands sprechen. Die Gesellschaft heute durchzögen "Risse, die sich auch in Wahlergebnissen widerspiegeln, aber mehr noch in der Art und Weise, wie wir übereinander und über dieses Land sprechen".

Ausdrücklich nannte er Unverständnis zwischen West- und Ostdeutschen, Angriffe auf Jüdinnen und Juden, die Angst von Menschen aus eingewanderten Familien, die sich bedroht fühlten, und die, bei denen umgekehrt das Einwanderungsland Deutschland zu einem Gefühl von Fremdheit führe. Er wiederholte seine Aufforderung zu einem neuen "Solidarpakt der Wertschätzung", in der man einander zuhöre und anerkenne, dass es die eine und einzige Geschichte des wiedervereinten Deutschland nicht gebe.

"Das Volk gibt es nur im Plural"

"In einer Demokratie gibt es das Volk nur im Plural", sagte Steinmeier. So sei auch der Ruf "Wir sind das Volk" auf den Demonstrationen in Leipzig gemeint gewesen. Die Lehre aus NS- und SED-Diktatur wie aus der Auflehnung von 1989 sei es, dass nie wieder Einzelne oder Gruppen "für sich beanspruchen, allein für das selbsternannte wahre Volk zu sprechen" - diesen Hinweis hatte Steinmeier in früheren Reden deutlich auf entsprechende AfD-Parolen bezogen. Aufgabe der Politik, so Steinmeier, sei es, aus der Vielfalt der Gesellschaft eine gemeinsame Linie zu entwickeln.

Als dringliche konkrete Aufgabe nannte er Politik für ländliche Gebiete, die immer weniger und ältere Bewohner hätten. Sie brauchten konkret "Kindergärten und Schulen, Busverbindungen und Feuerwehr, Hebammen und Hausärzte, Jobperspektiven und Internet". In Abweichung vom ursprünglichen Redetext fügte er hinzu: Es sind die vermeintlich kleinen Aufgaben, die die großen sind."

Der Bundespräsident plädierte zugleich für einen selbstbewussten Blick der Deutschen auf ihr Land. "Ich wünsche mir, dass wir in den hinter uns liegenden Jahren und Jahrzehnten nicht nur eine lange Kette von Brüchen, Krisen und Zumutungen sehen. dafür, die Summe der Erfahrungen der letzten 30 Jahre zu nutzen.

Er schilderte sie als gesamtdeutsch und einzigartig: "Demokratie und Diktatur, Teilung und Vereinigung, Friedliche Revolution und das Zusammenwachsen zweier Systeme, Zuwanderung und Integration – welches Land bringt eigentlich so viele, so unterschiedliche Erfahrungen in jüngster Vergangenheit zusammen?"

Ein Zitat aus der verhinderten Nationalhymne

Steinmeier schloss seine Rede mit einem Zitat aus der so genannten Kinderhymne: „Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s.“ Den Text von Bertolt Brecht mit der Melodie von Hanns Eisler hatte ebenfalls der Zentrale Runde Tisch als neue Hymne des vereinten Deutschlands vorgeschlagen, kürzlich setzte sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) wieder für sie ein. "Also lieben wir dieses Land und geben aufeinander acht", sagte Steinmeier. Wenig später fielen, nur 30 Kilometer von Steinmeiers Podium im Leipziger Gewandhaus entfernt, die Schüsse von Halle.

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