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Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2018 mit ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Präsentation des Koalitionsvertrags.

© picture alliance/dpa

Stillstand in Europa: Angela Merkel ist der falsche Sündenbock

Merz, Laschet und andere kritisieren die Bundeskanzlerin für ihre zögerliche Europapolitik. Doch Angela Merkel ist dafür nicht verantwortlich. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wenn jemand im übertragenen Sinne in die Wüste geschickt werden soll, heißt das im Klartext: Sündenbock gesucht. Beides hängt, religions-historisch, miteinander zusammen. In der Liturgie des jüdischen Versöhnungsfestes Yom Kippur wird ein Schafbock in die Wüste gejagt. Er trägt symbolisch alle Sünden. Hat man ihn vertrieben, ist das Verhältnis zwischen Gott und Menschen wieder rein, und frei für den Neuanfang.

Abgesehen davon, dass Angela Merkel eine Frau ist, das Bild des Bockes, der in die Wüste geschickt wird, also schief wirkt, erfüllt sie für ihre Partei gerade genau die Funktion, die zur Reinigung der Atmosphäre und zum Neuanfang führen soll. Wenn sie als Kanzlerin endlich abtritt, so machen uns führende Politiker der Union, aber auch Medien glauben, kann alles wieder gut werden mit der CDU, speziell in der Europapolitik.

Armin Laschet, der die Nachfolge der Kanzlerin antreten will, stimmte in diesen Chor ein: In der Europapolitik habe ihr Tempo und Mut gefehlt, es müsse endlich wieder große Initiativen wie zur Zeit von Helmut Kohl geben. Und Friedrich Merz sagte am Dienstag, er höre aus Brüssel, dass Deutschland zu wenig führe, er wünschte sich bessere Antworten auf die Vorschläge von Emmanuel Macron.

Es ist nicht die Kanzlerin, die die Dynamik ausbremste

Das klingt schlüssig, steht doch über dem Koalitionsvertrag die Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Tatsächlich scheitert die propagierte Dynamik nicht an der angeblichen Lethargie der Kanzlerin. Der Titel des nicht aus Begeisterung für die Sache, sondern unter dem Druck des Bundespräsidenten zustande gekommenen Regierungsbündnisses verklärt eine Absicht, die nicht bestand.

Diese Koalition ist in dem, was sie in der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik erreichen will – das hängt ja alles miteinander zusammen – vom ersten Moment an völlig zerstritten gewesen. Den überall beklagten deutschen Attentismus in Sachen Europa der Kanzlerin anzulasten, ist eine billige und unredliche Ausrede für die Unfähigkeit von CDU, CSU und SPD, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen.

Tatsächlich hat Merkel immer wieder bewiesen, dass sie in Krisensituationen entscheidungsstark ist. Aber genau dies macht man ihr auch zum Vorwurf, etwa beim Ausstieg aus der Atomenergie oder in der Flüchtlingsfrage. Wenn politische Entwicklungen mit ihrem politischen Wertekanon kollidieren, formuliert sie schnell und hart.

Der Vergleich mit Macron hinkt

Doch richtig ist auch: Wenn verbale Entschlossenheit nicht mehr als appellativen Charakter hat, also tatsächlich nichts bewirkt, bleibt Merkel lieber vage. Denn würde die Bundeskanzlerin dann so drängend reden und fordern wie Emmanuel Macron oder Frank Walter Steinmeier, würden ihr entweder die Christdemokraten oder die Sozialdemokraten mit ostentativem Desinteresse oder glatter Verweigerung die Grenzen ihrer Macht aufzeigen.

Wofür der Bundespräsident bei der Münchner Sicherheitskonferenz hoch gelobt wurde, oder vieles, was an den Worten des französischen Staatspräsidenten in München freudige Verzückung auch bei deutschen Politikern auslöste, könnte Angela Merkel auch sagen. Vieles von dem jetzt Bejubelten entspräche vermutlich ihrer persönlichen Einschätzung all dessen, was in Europa dringend geschehen muss.

Wenn der Bundespräsident das sagt, stärkt das die Moral, aber es hat nicht zwingend politische Konsequenzen. Der französische Staatspräsident hingegen verfügt über die Macht, umzusetzen, was er fordert. Ganz anders Merkel: Sie ist von einer Koalition abhängig, deren tragende Kräfte durchaus verschiedene Vorstellungen vom Ausmaß der Verantwortung Deutschlands in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben.

Blockaden von SPD und CDU

Krasses Beispiel: Unter dem Druck der SPD muss die deutsche Luftwaffe zum 31. März die Aufklärungsflüge über Syrien und dem Irak abbrechen, das Mandat des Bundestages läuft aus. Auch mehr Geld für die militärische Sicherheit Europas ist mit den Sozialdemokraten nicht zu haben.

Die CDU hingegen blockiert in der EU, was deutsches Geld kosten könnte. Die Union liebt das Bild von den gierigen Südeuropäern, die an unsere Kasse wollen. Bei der Aufstellung eines Haushaltes ohne den Beitrag Großbritanniens wird das gerade jetzt spannend werden. Wenn die CDU nun meint, mit einem Merz, Laschet, Spahn, Röttgen oder Söder ginge das alles künftig besser, wird sie sich wundern. Der nächste Sündenbock von CDU und CSU ist vermutlich ein Mann.

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