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Mehr als 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen soll es nicht geben, fordert die Kanzlerin.

© Fotomontage: imago images/Christian Ohde

Streit um Corona-Schwellenwerte: Die 35 ist eine Zahl mit Gesetzeskraft

Die Politik hat eine neue Marke für Lockerungen. Muss nun bei einer Inzidenz unterhalb der 35 zwingend gelockert werden? Und werden die Gerichte das mitmachen?

Seit der Inzidenzwert von 35 im Mittelpunkt der coronapolitischen Diskussionen steht, wird die juristische Kritik an den Schutzmaßnahmen wieder verstärkt hörbar, vor allem die aus den Reihen der FDP. So fordert etwa der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin, bei einem stabilen Unterschreiten der Schwelle von 50 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner in sieben Tagen müssten „substanzielle Öffnungsschritte“ eingeleitet werden.

Parteivize Wolfgang Kubicki sprach von „offenem Rechtsbruch“ angesichts der jüngsten Lockdown-Beschlüsse. Auch Verfassungsrechtler warnen, bei niedrigen Inzidenzen seien strenge Maßnahmen immer schwieriger zu rechtfertigen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will dagegen erst lockern, wenn der 35er-Wert stabil gehalten werden kann.

Neu ist das 35er-Maß nicht. Merkel hatte es schon im Herbst als Zielwert ausgeben wollen, damals aber war der Widerstand der Ministerpräsidenten zu groß. Gleichwohl hat er es als Marke in das im November reformierte Infektionsschutzgesetz geschafft, das die Landesregierungen zum Erlass entsprechender Rechtsverordnungen ermächtigt.

Hier steht die 35 neben den einzeln aufgeführten Schutzmaßnahmen wie etwa Beschränkung von Gastronomie- oder Übernachtungsangeboten in einem abgestuften Konzept. Bei 50 Neuinfektionen seien „umfassende Schutzmaßnahmen“ zu ergreifen, heißt es. Zwischen 50 und 35 gibt es dann nur noch „breit angelegte Schutzmaßnahmen“, die eine „schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“. Unterhalb der 35 kämen insbesondere noch Maßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens „unterstützen“.

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Weil Maßnahmen zudem an der „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“ auszurichten seien und viele Intensivbetten aktuell leer bleiben, folgern Kritiker daraus wie aus dem grundgesetzlichen Übermaßverbot, dass jedenfalls unterhalb der 35 zwingend gelockert werden müsste.

In diese Richtung geht auch ein aktueller Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen, der die 35 als neue Lockerungsschwelle für einen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz hält; die 35 sei keine politische Zahl, die einfach im Wege eines Kompromisses vereinbart werden könne, hieß es.

Im Herbst wurde die Lage wohl unterschätzt

Allerdings fordert das Gesetz auch, das Infektionsgeschehen insgesamt in den Blick zu nehmen und dessen Dynamik zu berücksichtigen. Die wurde im Herbst wohl unterschätzt. Gerichte dürften deshalb eher zurückhaltend sein, Maßnahmen pauschal mit dem Hinweis zu kippen, dass Schwellenwerte nicht erreicht seien. Vielmehr könnte es bei einer konkreten Betrachtung bleiben, welche Anordnungen im Einzelnen angesichts der erwarteten Entwicklung der Pandemie noch verhältnismäßig sind.

So hatte etwa der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof kürzlich die im Land geltende strikte nächtliche Ausgangsbeschränkung aufgehoben. Es werden noch mehr Maßnahmen auf den Prüfstand kommen. Dass die Justiz das Land vom Lockdown befreit, ist gleichwohl wenig wahrscheinlich.

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