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Essensausgabe bei der Berliner Tafel

© dpa

Streit um die Tafeln: Die Not mit der Hilfe

Seit 20 Jahren wird Wegwerfware wie Brot von gestern an bedürftige Menschen verteilt. Doch jetzt formiert sich Protest gegen diese sogenannten Tafeln.

Obst, Gemüse, Joghurt, Brot: Nach einer Studie der Universität Stuttgart landen in Deutschland jedes Jahr knapp elf Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Was Industrie, Handel, Großverbraucher und Privathaushalte wegwerfen, ernährt mittlerweile rund 1,5 Millionen Bürger. Ehrenamtliche Mitarbeiter sogenannter Tafeln sammeln die Wegwerfware überall in der Republik ein und geben sie kostenlos oder für einen kleinen symbolischen Betrag an Bedürftige weiter. Berlin war Vorreiter bei dieser Art der Nahrungsmittelweitergabe – hier ging im April 1993 die erste der heute bundesweit rund 910 Tafeln an den Start. Allein in der Hauptstadt versorgt die Tafel im Monat rund 125 000 Menschen mit insgesamt 660 Tonnen Lebensmitteln.

Eine durchweg gute Sache, könnte man meinen – weil durch die Tafeln der Müll weniger wird und die Armen ein bisschen mehr zum Leben haben. Doch in den vergangenen Jahren hat es immer mehr Kritik an dieser Form der Hilfe gegeben. Zum 20-jährigen Jubiläum formiert sich nun gar eine Protestbewegung aus mehr als 20 Verbänden und Nichtregierungsorganisationen, die die Tafeln in ihrer jetzigen Form reformieren möchten. Das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“, dem unter anderem das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und die Caritasverbände für die Diözese Limburg und die Stadt Köln angehören, hält die Tafeln für ein „vormodernes Almosensystem“, das sich von seinem ursprünglichen Ansatz einer Notlösung entfernt habe und dazu führe, dass Armut sich verfestige. Ihr Dachverband, der Bundesverband Deutsche Tafel, habe sich zu einer auf Expansion ausgerichteten Organisation entwickelt, die der Politik als Alibi diene, sagte Aktionsbündnis-Gründer und Sozialwissenschaftler Stefan Selke. Seine Protestbewegung will am Wochenende mit Vorträgen, Lesungen und einer „kritischen Stadtrundfahrt“ in Berlin auf die sozialpolitischen Folgen einer flächendeckenden Lebensmittelversorgung hinweisen.

Sabine Werth, Gründerin und ehrenamtliche Vorsitzende der Berliner Tafel, hält diese Argumente für verfehlt. „Ich glaube nicht, dass sich die Menschen in ihrer Not einrichten“, sagte sie. „Die meisten wollen nicht auf unsere Hilfe angewiesen sein und wollen ihre prekäre Situation so schnell wie möglich wieder verlassen.“ Die Zahl derer, die auf die Lebensmittel der Tafeln zurückgreifen, habe sich über all die Jahre kaum verändert, sagte Werth. Kinder, Jugendliche und Erwachsene – sie alle kommen zu den Ausgabestellen von Kirchen und karitativen Einrichtungen, die von der Berliner Tafel beliefert werden. Die meisten von ihnen leben nach Auskunft des Tafel-Dachverbandes von Hartz IV. In jüngster Zeit seien es vor allem immer mehr Rentner, die auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen seien.

Aus Werths Sicht hat ihre Einrichtung nicht nur dazu beigetragen, Not zu lindern, sondern auch dazu, dass die Menschen ihre prekäre Lage erkennen, akzeptieren und sich von Dritten helfen lassen. „Früher war die Schamgrenze viel höher“, sagte Werth. Zudem böten die Tafeln ein für die Bedürftigen wichtiges Forum, um miteinander in Kontakt zu treten und sich auszutauschen.

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