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Streit um Hartz IV für EU-Ausländer: Wer Anspruch auf Leistungen hat - und wer nicht

Die EU-Kommission hat die deutsche Hartz-IV-Praxis bei EU-Ausländern gerügt. Zu Recht?

Bisher ist scheinbar alles klar geregelt gewesen. Immer wenn die Brüsseler Kommission auf die Zuwanderung von Bulgaren und Rumänen in europäische Staaten angesprochen wurde, sang sie das Lied, dass europarechtlich alles geregelt und vermeintlich zu großzügige Sozialleistungen für die Neubürger allein Sache der nationalen Gesetzgebung sei. Am Freitag räumte die EU-Kommission erstmals ein, dass es konkurrierende Vorgaben aus Brüssel und, wie ein Beamter sagte, „Klärungsbedarf“ gibt. Denn eine Stellungnahme der EU-Kommission zu einem laufenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof über einen Fall in Leipzig hat den Streit über Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien wieder befeuert: Wie pauschal Deutschland EU-Ausländer von Sozialleistungen ausschließe, sei nach Europarecht nicht akzeptabel, heißt es da. In Berlin weist man die Kritik zurück.

An welchem Fall entzündete sich der Streit?

Die 24-jährige Rumänin Elisabeta D. lebte mit ihrem vierjährigen Sohn seit Juni 2011 bei ihrer Schwester in Leipzig. Sie bezog monatlich 184 Euro Kindergeld und erhielt vom Jugendamt zusätzlich für ihren Sohn einen Unterhaltsvorschuss von 133 Euro. Im Mai 2013 beantragte die Frau, die nur drei Jahre die Schule besucht hatte und keinen Abschluss vorweisen konnte, eine Arbeitserlaubnis für EU-Bürger bei der Bundesagentur für Arbeit, über die bis zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens noch nicht entschieden war.

Zweimal stellte die Rumänin einen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, also auf Hartz-IV-Bezüge. Beide Anträge wurden abgelehnt. Am 1. Juli 2012 reichte Elisabeta D. beim Sozialgericht Leipzig Klage gegen das dortige Jobcenter ein.

Das Gericht stellte zwar fest, dass der 24-Jährigen und ihrem Sohn nach dem Buchstaben des Sozialgesetzbuchs keine Grundsicherung zustehe. Die Richter bezweifelten aber zugleich, dass diese Festlegungen des Sozialgesetzbuches mit den Grundlagen des geltenden EU-Vertrages, insbesondere mit dem dort verankerten Diskriminierungsverbot und dem Aufenthaltsrecht, zu vereinbaren seien.

Die Leipziger Juristen legten daraufhin dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vier Fragen zur Vorabentscheidung vor, mit denen die Übereinstimmung von EU-Recht und nationaler Gesetzgebung geklärt werden sollte. Dazu gab die EU-Kommission jene Stellungnahme ab, die nun so viel Aufregung verursacht. Der EuGH selbst hat in der Sache noch nicht entschieden.

In ihrer Stellungnahme zu dem Fall habe die Kommission die Tatsache berücksichtigt, dass die Mitgliedstaaten den Zugang zu Sozialleistungen für Bürger, die auf dem Arbeitsmarkt nicht aktiv sind, verweigern können, erklärte die EU-Kommission am Freitag dazu. Der Europäische Gerichtshof habe allerdings klargestellt, dass diese Verweigerung nicht automatisch erfolgen könne. Die zuständigen nationalen Behörden müssten die individuelle Situation des Antragsstellers berücksichtigen.

Was gibt das EU-Recht bei Sozialleistungen für EU-Ausländer vor?

EU-Bürger haben laut Artikel 20 der europäischen Verträge „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Eine Richtlinie regelt die Details, um einen Missbrauch von Sozialhilfeleistungen zu verhindern. So muss ein EU-Ausländer in den ersten drei Monaten zwar keinerlei Formalitäten erfüllen, das Aufnahmeland ist aber nicht verpflichtet, Sozialhilfe zu gewähren.

Wer länger in einem anderen Land leben will, muss Arbeit haben und somit für sich selbst sorgen können, beziehungsweise ein direkter Verwandter sein. Aus diesem Grund dürften der EU-Kommission zufolge „nicht erwerbstätige EU-Bürger in der Praxis kaum einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben, da sie, bevor ihnen das Recht auf Aufenthalt zuerkannt wurde, gegenüber den nationalen Behörden nachweisen mussten, dass sie über genügend finanzielle Eigenmittel verfügen“. Allerdings zählt auch eine „begründete Aussicht“ auf eine Beschäftigung, die sich zerschlagen kann.

Zwar muss Deutschland nicht allen arbeitslosen EU-Bürgern im Land Sozialhilfe gewähren. Wohl aber sieht die EU-Kommission Änderungsbedarf im deutschen Sozialrecht, das arbeitslosen Unionsbürgern pauschal den Hartz-IV-Anspruch verweigert. „Es muss sichergestellt sein“, sagt ein Kommissionsbeamter, „dass in jedem Fall eine individuelle Prüfung stattfindet.“

Auf der nächsten Seite lesen Sie, ob es für Ausländer einfach ist Hartz IV zu beziehen.

Welche juristischen Hintergründe hat der Streit?

Ausgangspunkt ist eine Vorschrift im deutschen Sozialgesetzbuch (SGB II), die den Leistungsbezug regelt. Ausgenommen von Hartz-IV-Leistungen sind nach deutschem Sozialrecht generell alle EU- Ausländer in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts sowie über diesen Zeitraum hinaus – und daran stößt sich die EU-Kommission – „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.“ Vermieden werden soll damit ein Ausnutzen von sozialen Hilfen. Allerdings gibt es laut Bundesagentur für Arbeit hierbei zwei Ausnahmen. So haben EU-Zuwanderer bereits in den ersten drei Monaten Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, wenn sie nach ihrer Einreise einen Job aufgenommen und diesen „schuldlos“ wieder verloren haben – etwa bei einer Pleite des Arbeitgebers. Ausnahme Nummer Zwei: Sie haben einen Job als Arbeitnehmer oder Selbständiger, können davon aber den Lebensbedarf für sich und ihre Familie nicht bestreiten. In diesem Fall bekommen sie auf Antrag so genannte Aufstocker-Leistungen wie jeder Deutsche auch.

Wie gehen die Gerichte mit den gesetzlichen Vorgaben um?

Umstritten ist der Leistungsausschluss schon länger. Es gibt allerdings nicht die eine typische Fallkonstellation, mit deren Entscheidung alle Probleme gelöst wären. Es sind immer auch unterschiedliche Fälle zu beurteilen. Im Prinzip jedoch wollen die Gerichte den Leistungsausschluss tatsächlich als Ausnahme gehandhabt wissen. So hatte das Bundessozialgericht vor einem Jahr geurteilt, eine schwangere Bulgarin müsse SGB-II-Leistungen bekommen. Ihr stehe ein Aufenthaltsrecht wegen bevorstehender Familiengründung zu. Damit sei sie nicht „allein aus dem Zweck der Arbeitssuche“ in Deutschland und dürfe daher nicht von den Geldern ausgeschlossen werden.

Deutsche Sozialgericht rügen regelmäßig einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungs- und Diskriminierungsverbot im EU-Recht. Im Dezember hat das Bundessozialgericht das Verfahren um eine schwedischen Familie ausgesetzt und dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.

Ist es tatsächlich so leicht für EU-Ausländer, an Sozialleistungen zu kommen?

Klar geregelt ist der Anspruch auf Kindergeld: Diesen hat nach geltendem Recht jeder EU-Bürger mit gültigemWohnsitz in Deutschland – und zwar auch für Kinder, die im Ausland leben. Nötig sind dafür nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit lediglich eine Anmeldebescheinigung samt entsprechender Geburtsurkunden. Und um Aufstockerleistungen zu erhalten, genügt nach aktueller Rechtslage jeder unterbezahlte Teilzeitjob. Selbständige haben es hier schwerer. Sie müssen nicht nur Umsatz- und Steuernachweise präsentieren, sondern auch belegen, „dass man von ihrem Gewerbe tatsächlich leben könnte“, wie es eine Sprecherin des Sozialministeriums beschreibt. Dass dies nicht so einfach ist, zeigt die geringe Zahl der Anträge. Im Juli 2013 haben lediglich 779 Rumänen in Deutschland Aufstockerleistungen beantragt – das sind 0,6 Prozent aller Antragsteller unter den Selbständigen. Bei den Bulgaren waren es etwas mehr als 1300, rund ein Prozent. Und wenn EU-Ausländer kürzer als ein Jahr in Deutschland gearbeitet haben, endet ihr Anspruch auf Hartz IV bereits nach sechs Monaten. Danach müssen sie wieder nachweisen, dass sie nicht allein zur Arbeitssuche im Land sind. Ob sich Antragsteller Leistungen durch falsche Angaben erschleichen, haben die Jobcenter zu prüfen.

Die EU-Kommission weist darauf hin, dass nach EU-Recht jeder EU-Ausländer in einem Mitgliedsstaat nach fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt generell Anspruch auf Sozialleistungen des Aufnahmelandes habe. Deutschland dagegen beharrt darauf, dass EU-Ausländer, die sich nur zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, generell keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben – unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes.

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