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EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) setzt sich für eine schärfere Kontrolle von Dschihadisten ein, die aus dem Nahen Osten nach Europa zurückkehren.

© AFP

Streit um "Schwarze Null": EU-Parlamentschef Martin Schulz stellt Sparkurs infrage

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz stellt den strikten Haushaltskonsolidierungs-Kurs der Bundesregierung im Tagesspiegel-Interview infrage. Die These, wonach Haushaltssanierung automatisch zu Wachstum führe, habe sich „in Europa als falsch erwiesen“, sagt der SPD-Politiker.

Steht Europa vor dem Scheitern, Herr Schulz?

Warum sollte es? Wir stehen vor der Wahl einer neuen EU-Kommission, mit der wir in eine gute Zukunft aufbrechen wollen.

Ex-Außenminister Joschka Fischer, ein glühender Europäer, sieht die EU in einer zersetzenden Krise. Panikmache?

Ganz sicher haben wir wirtschaftliche und institutionelle Schwierigkeiten. Aber ich glaube, dass die Europäische Union mit der neuen Führung mit Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und mit mir als EU-Parlamentspräsident gut darauf vorbereitet ist. Zudem haben die Mitgliedsstaaten gelernt, dass es nur mit einer starken EU geht.

Beginnen wir mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Was muss die EU tun, damit aus der Konjunkturkrise vieler Mitgliedsstaaten keine neue Euro-Krise wird?

Wir müssen dringend handeln, wenn wir verhindern wollen, dass Länder wie Griechenland, Italien und Spanien wieder unter Druck der Kapitalmärkte geraten. Die Entwicklung an den Börsen ist ein Alarmzeichen. Jetzt gilt es, schnell die einseitige Kürzungspolitik um eine nachhaltige Investitions- und Wachstumspolitik zu ergänzen. Dazu plant Kommissionspräsident Juncker ein 300-Milliarden-Paket, das die Europäische Union schnüren muss, um Wachstum und Jobs zu schaffen.

Wohin soll das Geld fließen?

In den Ausbau der digitalen Infrastruktur sowie in Forschung und Entwicklung, damit wir weltweit mit unseren Produkten konkurrenzfähig bleiben. Wir müssen außerdem die vielerorts marode Infrastruktur erneuern und mit Blick auf die alternde Gesellschaft für Betreuung und Schaffung würdiger Unterkünfte alter Menschen sorgen.

Halten Sie daran fest, zur Finanzierung dieses Konjunkturprogramms Milliarden aus dem Rettungsschirm ESM abzuzapfen?

Das ist eine Gespensterdebatte. Wir haben für die Europäische Union einen Sieben-Jahres-Haushalt von 908 Milliarden Euro beschlossen. Davon fließen über 90 Prozent in EU- Töpfe wie die Regionalentwicklung, die Landwirtschaft, die digitale Infrastruktur, Forschung und Entwicklung oder Erziehung. Es geht darum, diese Gelder zu bündeln und mit nationalen Investitionen zu kombinieren. Sicher ist es auch sinnvoll, den Kapitalstock der Europäischen Investitionsbank EIB noch einmal anzuheben, damit sie mehr Kredite ausgeben kann. So erreicht man eine starke Hebelwirkung für Investitionen.

Selbst in Deutschland, Europas Wachstumslokomotive, lahmt die Konjunktur. Müssen auch wir mehr investieren, notfalls zulasten eines ausgeglichenen Haushalts?

Es ist immer behauptet worden, wir müssten nur die Haushalte sanieren, und dann kommen Investoren und Wachstum von ganz allein. Diese These hat sich in Europa als falsch erwiesen, und sie darf auch in Deutschland kein Dogma sein. Man muss beides tun – die Haushalte sanieren und investieren. Das gilt für Europa und für Deutschland. Nicht umsonst lässt der Stabilitäts- und Wachstumspakt eine Verschuldung von bis zu drei Prozent zu. Wann, wenn nicht in einer Konjunkturkrise, sollte dieser Spielraum für die Schaffung von Wachstum genutzt werden?

Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone ist von der Konjunkturkrise besonders betroffen. Welche Gefahr erwächst aus der Reformunfähigkeit der Regierung von François Hollande für die gesamte Euro-Zone?

Frankreich ist nicht reformunfähig, die Franzosen haben enorme Sparpakete aufgelegt, um ihren Haushalt zu konsolidieren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Als in Deutschland Reformen angepackt wurden, hat sich in Frankreich nichts getan. Zur Wahrheit gehört aber genauso, dass François Hollande nun das anpackt, was unter Nicolas Sarkozy jahrelang versäumt wurde.

Mit einer Verschuldung von 4,3 Prozent im Jahr 2015 verstößt Frankreich aber gegen den Stabilitätspakt. Sollte die EU-Kommission auf Milliarden-Strafen beim Defizitverfahren verzichten, wenn sich Paris zu noch härteren Reformen verpflichtet?

Die Kommission wird im Rahmen des Stabilitätspaktes entscheiden, ob sie den von Frankreich vorgelegten Haushalt billigt oder nicht. Ich bin aber sicher, dass die Kommission die konjunkturelle Lage Frankreichs berücksichtigen wird. Wenn es in Frankreich oder auch Italien kein Wachstum gibt, dann geraten wir insgesamt weltweit unter Druck.

Was Schulz von der Türkei im Kampf gegen den IS erwartet

Türkische Soldaten beobachten von der Stadt Suruc aus die Luftschläge gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in der Nähe von Kobane.
Türkische Soldaten beobachten von der Stadt Suruc aus die Luftschläge gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in der Nähe von Kobane.

© dpa

Die EU tut sich nicht nur bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise schwer, sondern auch im Ukraine-Konflikt oder beim Kampf gegen den Islamischen Staat. Was ist die Lehre daraus?

Wir brauchen eine starke EU. Kein einziges Land in der EU ist allein in der Lage, diese Probleme eigenständig zu meistern. Deshalb brauchen wir eine Verstärkung der Zusammenarbeit und gestärkte europäische Institutionen, anstatt einer EU, die sich darauf verlegt, Kleinigkeiten bis ins Detail zu regeln.

Beim Kampf gegen den IS hält sich die Türkei auffallend zurück. Wird sie damit den Ansprüchen als Nato-Partner und Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft gerecht?

Eines vorweg: Was die Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen leistet, ist mehr als beachtlich und verdient unser aller Respekt. Die Türkei ist aber gut beraten, endlich eine klare Position zu beziehen. Die Haltung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der seine Zurückhaltung mit der Sicherheitslage im eigenen Land mit dem IS und seinen Anhängern begründet, ist auf Dauer nicht tragfähig. Die Türkei darf nicht untätig blieben.

Was erwarten Sie?

Wir benötigen nicht nur einen Einsatz der Türkei gegen die Dschihadisten, sondern ein Bündnis aller Staaten in der Region – und dazu gehören auch wichtige Staaten wie der Iran und Saudi-Arabien. Die Türkei muss vor allem dabei helfen, islamistische Kämpfer, die aus der Region nach Europa zurückkehren, schärfer zu überwachen. Die Freizügigkeit dieser Personen muss eingeschränkt werden. Hier muss die Türkei enger mit den Sicherheitsorganen in der EU zusammenarbeiten – auch in Deutschland.

Die türkische Luftwaffe bombardiert Stellungen der PKK, aber sieht dem Vormarsch des IS in Kobane tatenlos zu ...

Wir brauchen alle beteiligten Kräfte, um die Terroristen des IS zu stoppen. Deshalb hoffe ich, dass die Türkei sich auf die Friedensgespräche mit der PKK konzentriert und die Verhandlungen weiter fortsetzt.

Die EU hat die PKK als Terrororganisation verboten. Sollte sich daran etwas ändern?

Als ich ein junger Mann war, war der Terrorist Nr. 1 auf der Welt Jassir Arafat, der später den Friedensnobelpreis bekam. Politik ist dynamisch und nicht statisch. Wir können uns nicht viele theoretische Debatten erlauben, wenn wir den sogenannten Islamischen Staat wirksam bekämpfen wollen.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat Waffenlieferungen an die PKK oder mit ihr verbundene Einheiten ins Spiel gebracht. Einverstanden?

Herr Kauder hat wie ich selbst darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den IS die oberste Priorität haben sollte. Ich möchte, dass wir alle Mittel ergreifen, um den IS zu stoppen. Wenn dazu Waffenlieferungen gehören an die Leute, die in unserem Interesse Kobane oder Bagdad gegen diese Wahnsinnigen verteidigen, dann muss man die Risiken abschätzen – und sich am Ende für das kleinere Risiko entscheiden.

Herr Schulz, Russland sendet in der Ukraine-Krise Signale der Entspannung. Werden die EU-Wirtschaftssanktionen gelockert, wenn sich Moskau bewegt?

Der Abzug der russischen Soldaten ist zwar ein positives Signal, kann aber nicht der letzte Schritt sein. Die russische Regierung muss vor allem auch wieder Vertrauen zurückgewinnen. Wladimir Putin muss die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer innerhalb der eigenen Grenzen garantieren. Außerdem muss er zu einem vernünftigen Abkommen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bereit sein. Dazu gehört auch, das Freihandelsabkommen der Ukraine mit der EU zu akzeptieren. Wenn all das gewährleistet ist, wird man sicherlich über eine Lockerung der Sanktionen reden können.

Gehört zu den Bedingungen auch die Rückgabe der Krim an die Ukraine?

Die Krim ist von Russland annektiert worden. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir die Chance haben, das zu ändern.

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