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Seit seinem Wahlsieg 2011 kümmert sich Erdogan nicht mehr groß um die Europäer.

© REUTERS

Streit um Visafreit für Türken: Erdogan legt keinen Wert mehr auf die EU

Als Erdogan an die Macht kam, machte er mit europapolitischen Reformen Furore. Inzwischen vollendet Erdogan gerade seine europapolitische Kehrtwende. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Dass sich die EU und die Türkei in der Flüchtlings- und in der Visafrage streiten, ist an sich nicht allzu schlimm. Interessenskonflikte sind kein Beinbruch. Fatal wird der Krach erst durch den grundlegenden Dissens, der dahinter sichtbar wird. Die Frage ist, ob das Verhältnis zwischen Ankara und Brüssel so grundlegend erschüttert ist, dass es nur noch schwer zu kitten sein wird. Anzeichen dafür nehmen jeden Tag zu.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft der EU vor, mit der Auszahlung der versprochenen Milliardenhilfen für die Flüchtlingshilfe zu zögern und die zugesagte Visafreiheit an immer neue Bedingungen wie die Revision der türkischen Antiterror-Gesetze zu knüpfen. Abgesehen davon, dass die EU jedes Draufsatteln bestreitet, muss sich Erdogan den Vorwurf gefallen lassen, vorherige Zusagen Ankaras wieder zu kassieren. Der von ihm entmachtete Premier Davutoglu hatte der EU die Umsetzung aller 72 Kriterien für die Visafreiheit versprochen. Davon will Erdogan nun nichts mehr wissen. Mit seiner offener Drohung, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, falls die EU seine Position nicht akzeptiert, gewinnt die Türkei ebenfalls keine neue Freunde.

Man darf Erdogan unterstellen, dass er all dies tut, obwohl er sich über die Folgen für das türkisch-europäische Verhältnis im Klaren ist. Vieles deutet darauf hin, dass der Präsident den Streit um Visa, Terrorgesetze und Flüchtlinge für den Versuch nutzt, das Verhältnis zwischen seinem Land und Brüssel radikal neu zu gestalten.

Erdogan setzt sich bewusst vom Westen ab

Ausgangspunkt ist Erdogans Ansicht, dass sich die Türkei auf Augenhöhe mit der EU befindet; er will sich den Direktiven aus Europa nicht mehr unterordnen. "Seit wann regiert ihr eigentlich das Land?" fragte Erdogan in einer Rede vor wenigen Tagen an die EU-Politiker gerichtet. Damit bedient der Präsident das bei den Türken weit verbreitete Gefühl, dass westliche Staaten ihr Land von sich abhängig machen wollen.

Es geht aber um mehr als bloß um einen Politiker, der geschickt mit nationalen Empfindlichkeiten seiner Wähler spielt. Erdogan setzt sich bewusst vom Westen ab, weil er die Zukunft der Türkei nicht als Bestandteil des Westens sieht, sondern als eigenständige Macht zwischen Balkan, Zentralasien, Nahost und Nordafrika. Seit Monaten bemüht sich der Präsident intensiv um eine Annäherung an die sunnitische Führungsmacht Saudi-Arabien und präsentiert sich und sein Land als Hoffnung der islamischen Welt.

Selbst wenn der aktuelle Streit mit der EU durch einen Kompromiss beigelegt werden könnte, würde sich an dieser Vision des Präsidenten nichts ändern. Erdogans Haltung verändert die Geschäftsgrundlage der Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel, die bisher auf dem türkischen EU-Beitrittswunsch und damit auf der Pflicht der Türkei zur Erfüllung der EU-Kriterien basierte. Erdogan erkennt dieses Prinzip der Unterordnung der Türkei unter EU-Vorgaben nicht mehr an.

Damit vollendet Erdogan eine europapolitische Kehrtwende, die schon vor einigen Jahren begann. Nachdem er in der ersten Phase seiner Regierung in der ersten Hälfte des vorigen Jahrzehnts mit europapolitischen Reformen Furore machte, erkaltete das Verhältnis zu Brüssel anschließend immer weiter, nicht zuletzt durch die offene Ablehnung, die der Türkei trotz des Beginns der Beitrittsgespräche im Jahr 2005 entgegenschlug. Spätestens seit seinem Wahlsieg von 2011 kümmert sich Erdogan nicht mehr groß um die Europäer; als er im Arabischen Frühling eine Führungsrolle anstrebte, tat er das als Vertreter der eigenständigen Regionalmacht Türkei, nicht als Chef eines EU-Vorpostens.

Der Präsident könnte dabei sein, den Bogen zu überspannen

Jetzt will er den Europäern die Visafreiheit abringen, ohne die Kriterien der EU zu erfüllen. Seine Keule ist die Drohung, syrische Flüchtlinge nach Westeuropa zu schicken. Doch der Präsident könnte dabei sein, den Bogen zu überspannen. Die EU wird nach Wegen suchen, mit dem Flüchtlingsansturm auch ohne türkische Mithilfe zurechtzukommen – auch weil sie gesehen hat, dass man sich auf Zusagen aus Ankara nicht verlassen kann. Nach den Verhandlungen von Davutoglu hatte die Türkei in Europa einen Fuß in der Tür. Erdogan legt darauf offenbar keinen Wert mehr.

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