zum Hauptinhalt
Eine Krankenschwester hält mit einer Hand das Gesicht einer Bewohnerin des Pflegeheims "La Retraite Fleurie" in Belgien.

© Benoit Doppagne/BELGA/dpa

Risikogruppen anders behandeln?: Strengere Regeln für Ältere und Kranke sind rechtlich möglich

Das Grundgesetz steht für Gleichheit vor dem Gesetz - aber nicht für Gleichmacherei. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Fatina Keilani

Widerspricht es dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 3 des Grundgesetzes, wenn Kontaktsperren für bestimmte Bevölkerungsgruppen länger gelten, wenn also die Freiheitsrechte einiger Menschen stärker eingeschränkt werden und länger eingeschränkt bleiben als die anderer Menschen?

Diese Frage stellt sich derzeit mit Blick auf Ältere und andere Risikopatienten. Gerade jetzt, da die Kontaktbeschränkungen umsichtig gelockert werden und über weitere Öffnungen diskutiert wird, gehört das Thema in den politischen Raum.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte]

Eine Situation wie derzeit hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.

Gleichbehandlungsfälle, die vom Bundesverfassungsgericht entschieden wurden, betrafen das Namensrecht bei der Heirat, gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder die heute skurril anmutende Frage, ob einem alleinstehenden Mann mit eigenem Hausstand nicht genauso ein monatlicher Hausarbeitstag gewährt werden muss wie einer Frau, außerdem zahllose Einzelfragen des Steuerrechts, des Berufsrechts, des Sozialrechts. Grundrechtsbeschränkungen für Menschen eines bestimmten Alters oder Gesundheitszustandes waren noch nicht da, jedenfalls nicht staatlich verordnet. Gleichwohl wären sie denkbar.

Ungleichbehandlung kann rechtens sein

Nötig ist aus rechtlicher Sicht einfach nur ein stichhaltiger Grund für die Ungleichbehandlung, Stichwort Willkürverbot, sowie ein vernünftiges Verhältnis zwischen Eingriffsgrund und der Benachteiligung des Einzelnen. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches entsprechend unterschiedlich zu behandeln.

Die Sterblichkeit im Falle einer Corona-Infektion zeigt recht klar, dass besonders ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen durch das Virus in Lebensgefahr sind. Es erscheint daher rechtlich vertretbar, eine Regelung zu schaffen, die das berücksichtigt; diese müsste sich in den Grenzen des Nötigen halten und immer wieder überprüft werden.

Unzulässig ist nur die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Ungleichbehandlung erstens überhaupt vorliegt und ob sie zweitens unzulässig ist, werden Vergleichspaare gebildet. Sind Alte und Junge hier wesentlich gleich? Sind Kranke und Gesunde gleich? Die Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte stellt nämlich auch eine Ungleichbehandlung dar, wenn eine Teilgruppe im Hinblick auf gewichtige Unterschiede stärker belastet wird.

Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann.

Hintergründe zum Coronavirus:

Wir machen das alles für Euch - jetzt tut was für uns

Die vorliegende Situation ist auch deshalb interessant, weil einer bestimmten Gruppe – Älteren und Geschwächten – einerseits eine Art Sonderopfer abverlangt würde, das sie im Dienst der Allgemeinheit erbringen soll - und andererseits dieses Opfer eben dieser Gruppe zuvörderst selbst zugutekommt, indem man sie damit vor Gesundheitsrisiken schützt.

Andererseits wollen manche nicht besonders geschützt werden und schon gar nicht zwangsbeglückt. Senioren machen ihr Recht auf Eigenverantwortung geltend – sie passten schon selbst auf sich auf und sich isolierten sich auch freiwillig. Zwang komme einer Entmündigung gleich. Und was ist mit der Freiheit zur Selbstgefährdung? Vielleicht will ein alter Mensch sich ja lieber dem Risiko der Infektion aussetzen als einer Fortdauer der Einsamkeit. Andererseits: Tut er dies, gefährdet er eben nicht nur sich, sondern schafft Risiken auch für viele andere. Am Schluss der Kette nimmt er womöglich jemandem das Intensivbett weg.

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Und könnte man es nicht sogar umdrehen und den Alten zurufen: Dieser ganze Lockdown, den machen wir für Euch – und jetzt müsst ihr eben auch etwas für uns tun. Auch andere verzichten schließlich derzeit in bisher ungekanntem Maß auf die Ausübung ihrer Grundrechte, auf ihre Bewegungsfreiheit, ihre Berufsfreiheit, das Versammlungsrecht.

Die Frage ist im politischen Raum noch lange nicht zu Ende diskutiert. Gerne wird in der Debatte der Gleichheitssatz als Argument bemüht, warum eine Regelung, die nur einigen Bevölkerungsgruppen strengere Regeln auferlegt, verfassungswidrig sei. Doch dieses Argument geht fehl. Der Gesetzgeber kann nach Auffassung zahlreicher Verfassungsrechtler eine Regelung schaffen, die Risikogruppen stärker in ihren Freiheiten einschränkt, wenn er dies entsprechend begründet.

Das Grundrecht aus Artikel 3 vermittelt jedem Menschen ein subjektives Recht. Es ist ein Abwehrrecht gegen Ungleichbehandlung. Es ist kein Recht auf Gleichmacherei.

Zur Startseite