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Plakate von Demonstranten in London

© Reuters/Henry Nicholls

Studie belegt verhärtete Fronten: Briten nehmen im Brexit-Streit auch Blutvergießen in Kauf

Die Forscher nennen ihre Ergebnisse „sehr traurig“: Befürworter und Gegner des EU-Austritts sehen Unruhen, Krawalle und Anschläge voraus.

Schlägt die Brexit-Debatte bald in Gewalt um? Viele Briten scheinen dies zu glauben, mehr noch: Eine Mehrheit würde das Risiko von Anschlägen auf Parlamentsabgeordnete oder schweren Verletzungen bei Demonstrationen in Kauf nehmen – Hauptsache, die eigene Meinung setzt sich durch. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler der Universitäten von Cardiff und Edinburgh in ihrem jüngsten Bericht zur Zukunft Englands. Trotz des verwirrenden Titels wurden dafür repräsentative Gruppen in allen Teilen des Vereinigten Königreiches befragt.

Immer wieder haben Befragungen im Land den Eindruck bestätigt, dass sich seit der knapp ausgegangenen Abstimmung (52 zu 48 Prozent) im Juni 2016 die Fronten noch verhärtet haben. Die politische Debatte wird seit Monaten von Begriffen wie „Verrat“ oder „Kapitulation“ dominiert. Der Generalstaatsanwalt im Kabinettsrang, Geoffrey Cox, sprach kürzlich von einem „toten Parlament“, die Rede ist vom „Zombie“-Unterhaus. Premierminister Boris Johnson gab monatelang die Parole „Erledigen oder sterben“ (do or die) aus – der EU-Austritt zum Termin 31. Oktober sei wichtiger als alles andere. Erst spät räumte er sein Scheitern ein: Großbritannien erhielt zum dritten Mal eine Verlängerung der Austrittsperiode.

Doch was geschieht danach? Unruhen, Straßenkrawalle, politische Anschläge, die Auflösung des Landes in seine Bestandteile sowie eine Verschlechterung der Wirtschaftslage – so sehen eindeutige Mehrheiten von Brexit-Befürwortern wie -Gegnern die Zukunft des Landes.

Beiden Gruppen gilt sogar ein Blutvergießen als Phänomen, das man für den „richtigen“ Ausgang in Kauf nimmt: 71 Prozent englischer, 70 Prozent walisischer und 60 Prozent schottischer Brexiteers schrecken Anschläge auf Parlamentarier oder gewalttätige Demos nicht ab; bei den EU-Befürwortern liegen die Prozentwerte niedriger (58/56/53). Beide Seiten seien „zu einer fundamentalen Neuordnung der politischen Regeln“ bereit, analysiert Professorin Ailsa Henderson von der University of Edinburgh.

Schockiert von Ergebnissen

Dass das Land durch den Austritt aus dem größten Binnenmarkt der Welt erheblich ärmer werden könnte, haben die Brexiteers längst eingeplant: Mindestens drei Viertel, in Wales sogar 81 Prozent, sind bereit, diesen Preis zu zahlen. Auch die Union der vier Landesteile würden die meisten auf dem Altar des Brexit opfern, je drei Viertel in England und Wales, 59 Prozent in Schottland.

Die „sehr traurigen“ Forschungsergebnisse hätten ihn schockiert, sagt Professor Richard Wyn Jones von der Cardiff University. Im Vorfeld einer Unterhauswahl, in der politische Sichtweisen vorsätzlich polarisiert würden, sei die Teilung des Landes besorgniserregend. Er erinnert an die Ermordung der Labour-Parlamentarierin Joanne Cox durch einen Ultranationalisten auf dem Höhepunkt der Referendumskampagne im Juni 2016. Tatsächlich verspricht der Wahlkampf für den vorgezogenen Urnengang am 12. Dezember hart zu werden.

Mit seinem Austrittskurs agiert der Regierungschef, so suggerieren es Befragungen zur EU-Mitgliedschaft Großbritanniens, gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Während des gesamten Kalenderjahres 2019 gab es nur eine Umfrage, in der die Mehrheit in einem zweiten Referendum erneut für den EU-Austritt stimmen wollte. Zuletzt lag das Verhältnis bei 52,6 zu 47,4 Prozent für den Verbleib. Freilich liegt dies im Korridor statistischer Unsicherheit; zudem hatten nur ganz wenige der Befragten seit 2016 ihre Meinung geändert. Den Ausschlag gaben vielmehr jene, die damals nicht zur Urne gegangen waren, sich nun aber zum Votum entschlossen zeigen.

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