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Stuttgart 21: An der Platane 112

Der umstrittene Bahnhof Stuttgart 21 wird nun doch gebaut. Monatelang wohnten Gegner des Projekts im Schlosspark. Trotz bitterer Kälte: Einige bleiben.

Seit September lautet die neue Adresse von Nikolai Zahn: An der Platane 112. Genau genommen steht sein Zelt zwischen den Nummern 111, 112 und 113. Jedem Baum, der im Schlosspark für das Projekt Stuttgart 21 gefällt werden soll, haben die selbst ernannten Parkschützer eine Nummer angeheftet. 282 sind es insgesamt. Drei Zeltburgen sind in den vergangenen Wochen zwischen den Bäumen entstanden, die „Schirmburg“, die „Baumpoeten“ und die „Schirmherrschaft“, alle nur von Männern bewohnt.

Es ist Sonntagmorgen um acht, die Nacht in der Schirmherrschaft war lang, feucht und kalt. Raureif bedeckt die Zeltwände. Nikolais zerknautschtes Gesicht lugt aus der Nylonbehausung: „Moin“, ruft er dem etwa zehn Meter über ihm hängenden Mann zu, einem von Robin Woods Leuten. Die Umweltaktivisten verharren trotz anhaltender Minusgrade in ihren Baumhäusern. „Moin“, schallt es zurück aus dem Geäst. Man kennt sich.

In Jeans und mit zwei Pullis über dem T-Shirt pellt sich Zahn aus zwei Daunenschlafsäcken. Nur die Schuhe zieht er nachts aus. Ein Blick über die Schulter: Mitbewohner Tom schläft noch. Nikolai, 38 Jahre, athletische Figur, kurze blonde Haare, zieht sich die Lederjacke über. Er schaut sich um: Auch die Baumpoeten schlafen noch, in der Schirmburg gegenüber regt sich ebenfalls niemand. Nur Wolfgang, seit seiner Fernfahrerzeit immer um fünf Uhr wach, sitzt schon vor dem Zelt am Gaskocher und beobachtet, wie der Park erwacht. „Ich geh Kaffee trinken“, sagt Nikolai und schlurft die 20 Meter zum Küchenpavillon.

Ab sieben Uhr macht Marian, ein grauhaariger Mittfünfziger mit mediterranem Teint, jeden Tag das Frühstück für die rund 40 Zelt- und Baumbewohner: Kaffee, Tee, Kekse, Schokolade und manchmal sogar frische Croissants. Stuttgarter Bürger bringen, was zum Überleben im Park benötigt wird: vom Weckglas mit eingelegten sauren Gurken über Winterschuhe bis Feuerholz. Wo das heiße Wasser für den Kaffee herkommt, will Marian nicht verraten. „Vor ein paar Wochen noch haben wir das von einer Kneipe bekommen. Aber das Ordnungsamt hat das untersagt.“ Jetzt hält er die Quelle „geheim“.

Im Küchenzelt zieht Nikolai eine Tasse aus dem schmutzigen Geschirrberg, wischt sie mit einem Lappen aus und hockt sich zu fünf anderen Frühaufstehern. Einer rührt mit dem Taschenmesser in seiner Tasse, alle rauchen. „Wir sind der harte Kern“, sagt einer, denn als es kälter wurde, sind viele wieder zurück in ihre beheizten Wohnungen gezogen. „Sofakartoffeln sind das“, schimpft einer. Nikolai ist keine Kartoffel. 13 Jahre als Fahrradkurier härten ab. „Obwohl“, er streicht sich über die Beine, „eine lange Unterhose wäre jetzt nicht schlecht.“

Bis um zwei Uhr am Morgen hat Nikolai um den kombinierten Grillofen gesessen, den Wolfgang aus einer alten Waschmaschinentrommel gebastelt hat. Würste gab es, ein paar Bier, nebenbei dudelte SWR1 aus dem Kofferradio. Wolfgang, der schon über 50 ist, erzählte, wie sie damals in Wackersdorf die Polizei in Schach hielten. Rote Friedhofskerzen flackerten am Fuße der Bäume, Nikolai erinnerte sich daran, wie er in die Zeltburg kam. Im August demonstrierte er gegen den Abriss des Nordflügels des alten Bahnhofs, er redete mit älteren Frauen, die von den Wackersdorf-Protesten erzählten, und er fasste den Entschluss, „Einsatz zu zeigen“. Zuerst übernachtete er auf der Wiese vor dem Nordflügel, dann zog er in den Schlosspark.

Nach vier bis sechs Bier ist Nikolai gestern in seine beiden Schlafsäcke gekrochen, durch das Vorzelt, wo die Rucksäcke lagern, neben der Axt, den Schuhen und Decken. Hat sich hingelegt auf drei Isomatten, hat gehofft, dass die Ratten diese Nacht draußen bleiben und die Blase möglichst nicht drückt. Die anderen saßen noch länger bei Bongoklängen und redeten über die Themen, über die sie immer reden.

Eigentlich könnte Nikolai in einem warmen Bett schlafen, gar nicht so weit weg, in einer WG im Stuttgarter Osten. Doch in seine Wohnung geht er nur, wenn die Klamotten und der Körper nach Reinigung verlangen. Oder um das Handy aufzuladen. Als eine Grippe ihn kürzlich drei Tage ins Bett zwang, fühlte er sogar so etwas wie Heimweh nach dem Park.

Nikolai hat seinen Kaffee ausgetrunken und geht auf eines der beiden Dixi-Klos, die das Ordnungsamt den Bewohnern zubilligte. Die ersten Touristen schlendern durch den Park, sie nähern sich dem „harten Kern“, man unterhält sich. „Tausend Kilo Feinstaub bindet so ein Baum“, sagt Nikolai. Er kann auch Fragen zum Tunnelbau, zu Gesteinsschichten und zum Juchtenkäfer beantworten. In Nummer 149 lebt so ein seltener Käfer. „Die Larven brauchen drei Jahre, bis sie voll entwickelt sind.“ Nikolai erklärt den Besuchern, was er vor zwei Monaten selbst noch nicht wusste.

„Viele dieser Bäume standen schon, als Van Gogh die Sonnenblumen gemalt hat“, sagt Nikolai. Er hat es auf einem Schild gelesen, das jemand unter Nummer 145 aufstellte. Als in der Nacht zum 1. Oktober unter Polizeischutz die ersten Bäume fielen, stand er stumm dabei. „Ich habe fast geheult, 200 Jahre Leben in ein paar Minuten zerlegt und durch den Häcksler gejagt.“ Diese Ohnmacht hat seinen Widerstand angestachelt. Und so wurde aus einem, der bisher mit Demonstrationen wenig am Hut hatte, ein Protestler aus Überzeugung.

Es ist Mittagszeit, als sie plötzlich da sind, die Gärtner der Wilhelma mit ihren Rechen und Strohballen. Sie helfen bei der Säuberung des Geländes, bei der schwäbischen Kehrwoche unter freiem Himmel. Freiwillig und unentgeltlich harken fast zwei Dutzend Männer und Frauen das Laub zusammen, sammeln Unrat auf, machen den Park winterfest. Stroh wird auf dem schlammigen Boden verteilt. „Das ist wichtig, um der schädlichen Miniermotte kein Winterquartier zu bieten“, sagt Bruno, einer der Gärtner. Spaziergänger bleiben stehen und wollen mithelfen. Ein Ehepaar aus Schwäbisch-Gmünd bringt drei Taschen mit Mänteln und Jacken („Die war’n mal ächt deuer“). Sie haben Freunde im Schlepptau, „die wollen des au mal sehen“.

Als Nikolai einen Strohballen aufschüttelt und auf dem Schlamm verteilt, nähert sich ein Streifenwagen. Zwei Uniformierte interessieren sich für das Gewusel im Park. Gärtner Bruno mit dem lustigen Hut gibt freundlich botanische Auskunft. Dennoch werden vorsorglich die Personalien aufgenommen. Nach dem „Schwarzen Donnerstag“ misstraut man einander.

Manchmal kämen sie sich vor wie in einem Big-Brother-Container. „Frei lebende Parkschützer – bitte nicht füttern“, scherzt Nikolai. Bisweilen muss er Neugierige bitten, nicht ungefragt in die Zelte hinein zu fotografieren. Gegen unerwünschte Besucher haben sie rot-weißes Absperrband um die Zeltburgen gezogen. Nicht jeder hält sich dran. Viel Privatsphäre gibt es beim Leben im Zelt ohnehin nicht. „Das schweißt zusammen, aber die Nähe provoziert auch Zoff.“ Nikolai nennt das den Lagerkoller, „klar, wenn jeder seine Macken von zu Hause mitbringt“. Wenn der eine mal nicht spülen und der andere mal nicht das Laub rechen will, ganz normale Probleme wie in einer WG.

Neben Baum 112 steht Nikolais Rennrad. Es wird ihn am nächsten Morgen, wenn das Handy ihn um 6.55 weckt, durch die Stadt tragen, durch Stuttgarter Schleichwege und über sechsspurige Kreuzungen. Nikolai wird wieder aussehen wie ein Kurier, im windschnittigen Outfit, mit Helm und Post auf dem Rücken. Der durchtrainierte ruhige Mann, von dem keiner ahnt, wo er die Nächte verbringt. Auch den Winter über verbringen wird. Denn nachdem am Dienstag Heiner Geißlers Schlichterspruch dem Bahnprojekt grünes Licht gab, ist für Nikolai klar: „Ich bleibe, solange es sein muss.“

Janet Schönfeld

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