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Wir sind das Volk. Die Montagsdemonstrationen in Stuttgart richten sich gegen ein Bahnprojekt – und gegen die Mächtigen.Foto: dpa

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Stuttgart 21: Kopfschüttelnd abgewandt

Vom Veteranen der Anti-Akw-Bewegung, über den Öko-Baumschützer bis zur alten Dame: Das Wahlvolk in Baden-Württemberg verliert das Vertrauen in die Politik und wendet sich vor allem gegen die CDU.

Von Robert Birnbaum

Der Mann aus der Provinz lehnt sich in seinem Stuhl leicht vor. Nein, sagt er, es sehe nicht gut aus für seine CDU, wenn Baden-Württemberg in einem halben Jahr wählt. Wegen Stuttgart 21? Der Mann schüttelt den Kopf. Vor seinem Rathaus bescheint die Sonne den beschaulichen Bauernmarkt eines schwäbischen Provinzstädtchens. Aus Fenstern hängen Betten zum Lüften. Fünf Metzger und sechs Bäcker teilen sich den dezenten Wohlstand. Nein, sagt der Christdemokrat, die Sache sei viel komplizierter: „Die, die für Stuttgart 21 sind, gehen trotzdem nicht zur Wahl.“

Das wäre dann also noch ein düsteres Paradox mehr in einer Zeit, in der die Südwest-CDU ihre eigene Welt kaum mehr versteht. Als ob es nicht reichen würde, dass an diesem Montagabend auf dem Nordplatz am Stuttgarter Hauptbahnhof wieder lautstark im Chor „Oben bleiben!“ ertönte. Es ist der Schlachtruf der Demonstranten gegen den geplanten Schnellbahn-Tiefbahnhof „Stuttgart 21“. Die Kundgebung ist die 44., der Moderator vom Naturschutzbund BUND vermeldet den Rekord von 19 825 Teilnehmern, was schätzungsweise übertrieben ist – aber sehr, sehr viele sind es trotzdem.

Außerdem ist die genaue Zahl längst egal, so gleichgültig wie die Frage, wer hier für was demonstriert. Der Protest ist längst Selbstzweck. Schon die Demo-Teilnehmer selbst könnten ja buntscheckiger kaum sein – vom mode-punkigen Gymnasiasten zum Veteranen der Anti-Akw-Bewegung, vom Öko-Baumschützer bis zur alten Dame aus der besseren Gesellschaft, die daran erinnert, dass die Stuttgarter die bis zu 200 Jahre alten Bäume im Schlossgarten, die demnächst fallen sollen, nicht mal im eisigen Hungerwinter 1946/47 angetastet haben. Diese alten Damen haben stark dazu beigetragen, dem Protest das Etikett eines Bürgeraufstands zu verleihen, und das inzwischen, wie der EU-Parlamentarier Joe Higgins unter großem Jubel erinnert, bis nach Paris „und in die ,New York Times’“.

Higgins ist ein irischer Sozialist, also ein Mann, dem die gleichen älteren Damen sonst die Türschwelle weisen würden. Doch einer, der die Anwesenden ihrer weltweiten Bedeutung versichert, ist willkommen. Trotzdem gibt es feine Differenzierungen. Ulrich Maurer, bekanntester Linker aus dem Ländle und Fraktionsvize in Berlin, steht unbeachtet vor der Tribüne. Der zweite, böse, Schlachtruf „Lügenpack!“ erschallt am Rande, wo sich die normalen Bürger sammeln, nicht so laut wie im aktivistischen Zentrum.

Aber hier wie dort wandern Fünf- Euro-Scheine, auch schon mal ein Zwanziger in die Sammelbüchsen für den Druck neuer Anti-Stuttgart-21-Aufkleber. Und hier wie dort hält ein mehr gefühlter als formulierter Konsens diese Ansammlung aller Murrer und Unzufriedenen zusammen, von der Frau mit Atemschutzmaske, die Baustellen-Staubstürme im Talkessel prophezeit, bis zum Bürokaufmann, in dem der schwäbische Rebellengeist wider die Obrigkeit erwacht ist. Allen gemeinsam ist das Gefühl, dass dieses „Stuttgart 21“ ein überteuertes Mega-Projekt aus einer überlebten Zeit sei. „Hochgeschwindigkeitsnetz“ – das ist aus der gleichen bösen Welt da draußen wie Aktienspekulation und Turbo-Börse.

Für die Regierenden ist dieses Gefühl hoch gefährlich, weil es gegen jede Art von Argument und Zugeständnis resistent ist. Überdies hat der Protest sie kalt erwischt. Seit einem Jahrzehnt laufen alle Verfahren, höchstrichterliche Urteile inklusive. Aber, sagt ein Kommunalpolitiker: „Erst wenn der Bagger kommt, geht bei den Bürgern die Lampe an.“ Der neue Ministerpräsident Stefan Mappus sieht sich so unversehens in einer Lage, die in manchem verflixt an Edmund Stoiber erinnert: Auch in München hatten die Bürger sich schon kopfschüttelnd abgewandt, als ihr Regierungschef noch vom Transrapid zum Flughafen schwärmte.

Der Fall Stuttgart wird von beiden Seiten noch prinzipieller aufgeladen. „Wenn Stuttgart 21 fällt“, sagt einer aus der Landes-CDU, „können wir ab da alle Großprojekte vergessen.“ Der Rechtsstaat stehe auf dem Spiel. Dagegen erklärt ebenso prinzipiell einer wie der Grünen-Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter, zwar habe Stuttgart 21 in allen Gremien die Mehrheit gehabt, doch sei das kein „demokratischer Prozess“, weil die Volksvertreter ja bloß ahnungslos die Hand gehoben hätten. „Lügenpack!“ schallt es wieder über den Platz.

Außerdem geht es ganz profan um die Macht im Südwesten. Die Grünen erleben die Wiedergeburt als bürgerliche Protestpartei – sie, die längst auch für CDUler wählbar sind, saugen allen Widerstand auf. Die FDP spielt keine Rolle und droht auch wegen der Berliner Performance abzuschmieren. Die SPD, in der Stuttgart-21-Frage schwankend, kann nur – oder: immerhin – auf eine Juniorpartnerrolle in der nächsten Regierung hoffen. Der Linken droht das Fünf-Prozent-Aus.

Mappus versucht Kurs gegen den Sturm zu halten. Er ist aber in Gefahr, Opfer seines rauflustigen Naturells zu werden. Das Wort vom „Fehdehandschuh“, den man ihm hingeworfen habe, wies ein Demo-Redner kühl zurück: Es gehe nicht um die Macht, sondern um den Bahnhof.

Erst recht aufgestachelt hat die Demonstranten, dass Kanzlerin Angela Merkel die Landtagswahl zum Volksentscheid über Stuttgart 21 erhob. In der Landes-CDU wiederum hat das Bekenntnis zwei Reaktionen ausgelöst. Die Landtagsfraktion, gerade in Klausur, war über die Unterstützung entzückt – dass Merkel damit zugleich versuchte, alle Schuld an einer drohenden Niederlage von Berliner Ursachen abzukoppeln, fiel offenbar zunächst keinem auf. Der Versuch ist aber sowieso sinnlos. Wenn die CDU Baden-Württemberg verliert, steht die CDU-Kanzlerin vor der gleichen Lage wie ihr SPD-Vorgänger im Falle NRW.

Draußen im Ländle indes löste Merkels scharfe Parteinahme leises Befremden aus, so wie die E-Mails aus der Stuttgarter Parteizentrale, die neuerdings die CDU-Basis mit Argumenten für das Bahnprojekt füttert. „Bei uns“, sagt der Gewährsmann aus der Provinz, „spielt Stuttgart 21 gar keine Rolle.“ Auch deshalb, weil viele seiner Leute die Dinge in Stuttgart skeptisch sähen und sich schon länger das unterschwellige Gefühl breit mache, dass es egal sei, wer da regiere. Mappus könne vielleicht in der Landeshauptstadt mit Haltung punkten. Draußen im Land helfe das wenig: „Eine Nicht-Stimmung zu drehen ist schwierig.“

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