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Stuttgart 21: Public Schlichtung

Die Vermittlung zum Bahnprojekt Stuttgart 21 wird live übertragen. Zuschauern verspricht Schlichter Geißler nicht nur Aufklärung pur – verstrickt sich aber sofort in Details.

Nach anderthalb Stunden stöhnt Mediator Heiner Geißler: „Wenn man all die vielen Gleise sieht …“ Rote und grüne Linien wirft der Projektor an die Wand im Stuttgarter Rathaus, dazu gepunktete, durchgezogene und sich kreuzende. Und als gebe der Gleisplan um die Landeshauptstadt noch nicht genug her, hat Gandolf Stocker auch noch Blitze und Schnirkelschnecken als Symbol für langsame Weichen in sein Schnittmuster gemalt. Damit wird klar: Schon nach kurzer Zeit ist „Public Schlichting“ bei den Details angelangt.

Stocker ist eine der Symbolfiguren des Protests gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs. Dass der Altkommunist und S21-Widerständler der ersten Stunde an diesem Freitagmorgen überhaupt hier sitzt auf Augenhöhe mit CDU-Größen wie Ministerpräsident Stefan Mappus, dessen Umweltministerin Tanja Gönner oder Stuttgarts OB Wolfgang Schuster ist Teil des Experiments, das diesen und an den kommenden Freitagen in Stuttgart abläuft: eine öffentliche Auseinandersetzung über das seit Jahrzehnten debattierte, längst begonnene Bahnprojekt Stuttgart 21. Ein, so Geißler, „Demokratie-Experiment“. Denn, so hat er auch gesagt, in einer modernen Mediendemokratie habe die Politik die Aufgabe, „einmal Beschlossenes in allen Phasen der Realisierung zu begründen und zu erläutern“.

Anhörungen mit Fachleuten kennt die Politik zuhauf, aber gerade dies, nordet der Mediator seine Teilnehmer ein, sei es nicht: keine parteipolitische Auseinandersetzung wolle er hören, „keine Predigten oder Glaubensbekenntnisse, kein historisches Seminar“. Vielmehr sollten die Teilnehmer streng zur Sache debattieren und vor allem auf Fachbegriffe verzichten, damit die Zuschauer folgen könnten.

Die Zuschauer? Möglicherweise haben die Veranstalter deren Interesse überschätzt. Die Schlichtungs-Show wird übertragen in den großen Sitzungssaal des Rathauses, die Stadt rechnete mit Verzögerungen beim Einlass. Doch viele der rund 500 Plätze bleiben frei, auch die Pressetribüne im Verhandlungsraum ist bei weitem nicht komplett besetzt. Aber in die heimische Wohnstube überträgt ja auch der Dokumentationskanal „Phoenix“. Dessen Zuschauern verspricht Geißler nicht nur Aufklärung pur, sondern rät auch, „sich zu öffnen für neue Argumente“.

Gibt es die? Bei den jeweils sieben Gesprächsteilnehmern der beiden Seiten wohl nicht. In jeweils 45-minütigen Statements führen die Kontrahenten ins Thema ein. Bahnvorstand Volker Kefer betont sachlich, der Grüne Boris Palmer in seiner Replik deutlich aggressiver. „Herr Geißler, rügen Sie mich, wenn ich zu polemisch werde“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister, der eigentlich im Vaterschaftsurlaub ist und sein Amt ruhen lässt, für die Gegner als einstiger Verkehrsexperte der Grünen im Landtag aber unentbehrlich scheint.

Sieben Befürworter, sieben Gegner, dazu jeweils die gleiche Anzahl beratender Experten: Dieses überschaubare Gremium soll bis Ende November einen Prozess bewältigen, den Geißler „Fach- und Sachschlichtung“ nennt und der auch in Tarifauseinandersetzungen vorgeschaltet wird, damit die Kontrahenten hinterher „die Konsequenzen ziehen können, die sie für richtig halten“. In allen Zwängen, die es immer schon gibt: „Wir können keinen neuen Bahnhof erfinden und Stuttgart auch nicht zur ebenen Stadt machen“. Die parteipolitische Instrumentalisierung des Themas Stuttgart 21, die vor allem die Grünen vorangetrieben haben, bleibt am Freitag weitgehend außen vor. „Palmer ist ein respektabler Gegner“, erkennt Kefer an, die Diskussion wertet er als „wertschöpfenden Prozess“.

Es geht in dieser ersten Runde um die Leistungsfähigkeit des neuen wie des alten Bahnhofs und darum, ob die Kapazität von Stuttgart 21 auch für die Zukunft taugt. Wie viele Fahrgäste wann und wohin fahren, die unterstellte Entwertung von Unterzentren gegenüber dem Flughafen, kürzere Fahrtzeiten und die Einbindung in den Taktfahrplan sind Fragen, die teilweise schriftlich ausgetauscht werden. Das Thema ist nun mal komplex: Als Geißler eine Sachverständige mehrfach unterbricht, platzt Umweltministerin Tanja Gönner der Kragen: „Wir wollen Fakten besprechen und in Details gehen, die nicht einfach sind. Ich werbe dafür, sie ausreden zu lassen. Eine gewisse Fachlichkeit müssen wir zulassen“. Lange verbeißt sich die Runde in die Schwierigkeit, hypothetische Fahrpläne zu diskutieren, die erst in einem Jahrzehnt in Kraft treten. Die Bahn hatte als Orientierungshilfe Zwischenstände aus einem Gutachten mitgebracht, in denen die Gegenseite prompt Kritikwürdiges entdeckt. Kefer nennt es „unfair“, angesichts noch auszuräumender, einzelner Konflikte gleich das ganze System infrage zu stellen. Entsprechend blieben viele Fragen offen.

„Die Leute werden ja total verwirrt“, klagt Geißler einmal, und das liegt auch daran, dass er kein direktes Frage-Antwort-Spiel zulässt, sondern sich an die Reihenfolge der Wortmeldungen hält. „Wir müssen es das nächste Mal besser machen und auf den Punkt kommen.“ Einmal ist ihm das gestern schon gelungen. Bei der schwierigen Einfahrt in den alten Kopfbahnhof, beschreibt er, „rumpelt man über viele Weichen, und wenn jemand auf der Toilette ist, dann haut‘s den runter“.

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