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Politik: Suchen als Chance

Von Antje Vollmer

In den Tagen um und nach dem Tod von Johannes Paul II. sind viele Dinge passiert, über deren Bedeutung wir uns erst langsam einen Begriff machen können. Gibt es wirklich eine Rückkehr der Religionen und ein verstärktes Fragen gerade der jungen Menschen nach Glauben und Glaubensgemeinschaften? Was fehlt den Jugendlichen in unserer Welt, dass sie in dieser einen Person gesucht und auch wohl gefunden haben? War es richtig, den Bezug auf die jüdischchristlichen Traditionen des Kontinents nicht in die EU-Verfassung aufzunehmen, wenn Millionen diese Wurzeln so selbstverständlich suchen? Sind die Kirchen überhaupt auf die Chancen vorbereitet, die ihnen hier von der Geschichte entgegenkommen, und haben sie gleichzeitig begriffen, dass sie dies aus einer Minderheitenrolle und einer durchaus oft dunklen eigenen Vergangenheit heraus tun?

Es wäre gut, sich diese Fragen nach einiger Zeit noch einmal neu vorzulegen. Ich jedenfalls glaube nicht, dass es sich nur um ein durch mediale Verbreitung global gigantisch vergrößertes Event gehandelt hat. So wie die Menschen selbstorganisiert kamen, freiwillig, klug und durchaus alltäglich, so wird sie dieses ungewöhnliche Weltereignis nicht unverändert lassen.

Es mag ein großer Sprung sein, von den Ereignissen in Rom nun zu unseren kleinen Berliner Religionsdebatten zu kommen. Aber auch hier geht es um Orientierung. Eine Mehrheit der Mitglieder des Abgeordnetenhauses tritt derzeit für die Einführung eines verpflichtenden staatlichen Werteunterrichts ein, in dem die Schüler so etwas wie eine Essenz von Ethik und Moral erfahren. Was da auf den ersten Blick als integrativ und irgendwie vernünftig erscheinen mag, erweist sich in der Realität als Verbannung des authentischen Religionsunterrichts aus den Schulen. Es verkennt auch die Tatsache, dass jede Ethik und jede Moral historisch geschichtliche Wurzeln hat, die ich kennen muss, von denen ich wenigstens eine Ahnung haben muss, wenn ich zu begründeten Werturteilen und Normen kommen will. Richtig ist, dass ein neutraler Staat kein Interesse für Religionen erzwingen kann und sollte. Deswegen ist eine Wahl zwischen einem Pflichtfach Ethik/Philosophie oder einem Pflichtfach Religion eine gute Lösung. Niemand wird dadurch gezwungen, sich von Vertretern der Religionsgemeinschaften unterrichten zu lassen, er kann das Fach Ethik wählen. Das ist aber etwas völlig anderes als der Versuch, so etwas wie die menschheitliche Werteessenz in einen Ethikunterricht zu packen, in dem die Begegnung mit authentischen Religionen und ihren Gemeinschaften gar nicht mehr vorkommt.

Das gerade gehört zu den großen Veränderungen der Neuzeit: Früher gab es niemanden, der nicht von Geburt bis zum Tod und im gesamten Alltagsleben von der Kenntnis von Religionen, ihren Texten, Riten und Sprachen umgeben war. Wenn aber dieses heute jede Selbstverständlichkeit verloren hat, wieso sollten wir das Fragen, Suchen, Wissen und Erfahrenwollen nicht als eine Chance für uns alle begreifen?

Antje Vollmer ist Vizepräsidentin des Bundestages und Grüne. Sie schreibt diese Kolumne im Wechsel mit Wolfgang Schäuble und Richard Schröder.

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