zum Hauptinhalt
Nelson Mandelas Zelle auf der Gefängnisinsel Robben Island vor Kapstadt, Südafrika - kaum groß genug, um darin ausgestreckt zu schlafen.

© Bernd Weißbrod/picture alliance/dpa

Südafrika: Mandelas Briefe aus dem Gefängnis

10.052 Tage hinter Gittern: Nelson Mandelas Zeilen an Familie und Weggefährten erzählen von Isolation und Beharrlichkeit. Eine Auswahl ist nun als Buch erschienen.

Dieser Briefband werde Aufschluss darüber geben, wie Nelson Mandela die 27 Jahre in Gefangenschaft überlebte, wie er ein halbes Menschenleben lang durchhalten konnte, ohne geistig und körperlich zu vertrocknen. So verspricht es Zamaswazi Dlamini-Mandela, die 39-jährige Enkelin von Nelson und Winnie Mandela, im Vorwort.

Was also gab Nelson Mandela die Kraft und das Durchhaltevermögen? In erster Linie war es wohl eine tiefe Gläubigkeit, religiös, ethisch und politisch. Seine politischen Überzeugungen und sein unbeirrbarer Glaube daran, die Rassentrennung in seiner Heimat zu überwinden. „Mein Denken, meine politischen Überzeugungen und Aktionen sind von einem einzigen Bestreben beherrscht“, schreibt Mandela im Oktober 1967 an das Justizministerium: „nämlich der Idee, den Mythos von der weißen Überlegenheit zu vernichten und unser Land zurückzugewinnen.“ Mandela saß bereits seit fünf Jahren im Gefängnis. In einem zehn Seiten starken Brief gab er Auskunft über seine Biografie, seine politischen Überzeugungen und Abgrenzungen (etwa zur Kommunistischen Partei), seinen ungebrochenen Kampfeswillen und seine akribische Argumentation.

Zudem gab ihm seine weit verstreute und für Außenstehende kaum überschaubare Familie viel Kraft. An eine Freundin und Antiapartheidsaktivistin schreibt er im Januar 1970: „Was mich selbst in den düstersten Augenblicken durchhalten ließ, war das Wissen, dass ich einer leidgeprüften & kampferprobten Familie angehöre… Dies verleiht mir mächtige Flügel.“

Er lernte Sprachen, arbeitete für sein Jura-Examen

Mandela nutzt die Zeit in der Gefangenschaft, um Sprachen zu studieren; er arbeitet, trotz aller Schikanen durch die Gefängnisbürokratie, für sein juristisches Examen; er beschäftigt die Behörden mit Anträgen und Beschwerden. Von Pflicht und Treue spricht er; von Moral und unbändigem Willen zur Verständigung nicht nur zwischen politischen Gegnern, sondern Menschen allgemein. Und seinem Familienkreis trichtert er immer wieder ein: „Bildung ist eine starke Waffe“.

Die mörderische Zwangsarbeit im Steinbruch kommt kaum vor. Auch von Differenzen zwischen den Gefangenen oder von Reflexionen über seine Bedeutung als „berühmtester Gefangener der Welt“ erfahren wir nichts. „Ich bin weder tapfer noch verwegen“, wiegelt er in einem Brief an seinen Schwager ab, „der Wunsch zu leben war immer da“. Nein, ein Märtyrer wollte er nicht sein.

Aber Demütigungen und Schikane durch das Gefängnispersonal raubten ihm den Nerv. Er konnte nie wissen, ob seine Briefe tatsächlich durch die Zensur kamen und abgeschickt wurden. Er durfte weder zum Begräbnis seiner Mutter noch seines ältesten Sohnes, seine Anträge wurden abgelehnt oder einfach ignoriert.

Doch mehrfach wiederholt er seinen Glaubenssatz: „Hoffnung ist eine mächtige Waffe.“ Oder es finden sich Sätze wie: „Wenn Du lachst, dann lacht die ganze Welt mit Dir, doch wenn Du weinst, dann weinst Du ganz allein.“ Im Februar 1969 versichert er seiner ältesten Tochter: „Eines Tages wird es eine neue Welt geben.“

Eine von mehr als 500 Seiten: diese dringende Bitte an den Commanding Officer, Robben Island, 30.11.1964.
Eine von mehr als 500 Seiten: diese dringende Bitte an den Commanding Officer, Robben Island, 30.11.1964.

©  Nelson Mandela Prison Archive, National Archives and Records Service of South Africa

Verzweiflung und Not sind nur zwischen den Zeilen zu erahnen

Auch die politischen Kampfgefährten, die mit ihm zusammen im Gefängnis waren, und die Sympathisanten draußen, die ihn nicht vergaßen, gaben Kraft. „Ich fühle mich stark & bin zuversichtlich aufgrund der vielen guten Wünsche & Solidaritätsbekundungen meiner vertrauten Freunde“, bekennt er im Krisenjahr 1969, als seine zweite Frau Winnie verhaftet worden war.

Wenn er schreibt: „Ich fühle mich topfit“ oder gar: „Ich bin glücklich“, dann sollte das vor allem Angehörige beruhigen und ihnen die Sorgen nehmen. Die Krisen, die Verzweiflung, die Not sind nur zwischen den Zeilen zu erahnen, Gefängnisbeamte lasen ja jeden Brief mit.

Im April 1969 gibt er in einem Brief an seine Ehefrau Winnie „Trostlosigkeit um mich herum“ zu. Und als er wenige Monate später von ihrer Verhaftung erfährt und sich bewusst wird, dass seine Kinder draußen nun quasi zu Waisen geworden seien, schreibt er, „war ich mit meinen Kräften so gut wie am Ende“.

Den Hauptteil dieser Auswahl macht die Zeit im Hochsicherheitsgefängnis auf Robben Island aus, 500 Seiten über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren, von Mai 1963 bis März 1982. Es finden sich viele Briefe an die weit verzweigte Familie, viele anspornende und dankbare Zeilen an Sympathisanten und Kampfgefährten, viele Briefe an die Gefängnisbürokratie, Briefe an Anwälte, Grußadressen – aber erstaunlich wenig Briefe an seine zweite Ehefrau Winnie, von der er später in Unfrieden schied.

Sein Leben als Faustpfand für die Abschaffung der Apartheid

Auch nach diesen Hunderten von Seiten ist es für einen gewöhnlichen Menschen schwer nachzuvollziehen, was dieser Mann über die Jahre für ein Kreuz getragen hat, 27 Jahre seines Lebens. Das sind rund 325 Monate oder exakt 10.052 Tage. Als Vater von fünf Kindern war er mit 44 Jahren in Untersuchungshaft gekommen, als 71-jähriger Großvater verließ er das Gefängnis im Februar 1990.

Mandela setzte tatsächlich sein Leben als Faustpfand für die Abschaffung der Apartheid ein, und er verschenkte gegen Ende gut weitere sechs Jahre in Unfreiheit, bis auch seine letzten Bedingungen erfüllt waren. In fünf Punkten hatte er im Februar 1985 seine Forderungen an Präsident Botha aufgelistet: „1. Als Erste muss die Regierung auf Gewalt verzichten; 2. Sie muss die Apartheid abbauen; 3. Sie muss das ANC-Verbot aufheben; 4. Sie muss alle, die wegen ihrer Opposition zur Apartheid inhaftiert, gebannt oder im Exil sind, freilassen; 5. Sie muss ungehinderte politische Aktivität garantieren.“ Bis Mandelas Forderungen dann durch den Nachfolger von Botha, Frederik de Klerk, umgesetzt wurden, vergingen weitere fünf Jahre.

Der Briefband ist sehr aufwendig erarbeitet. Allein die umfangreiche Personenrecherche und die vielen Erläuterungen sind beeindruckend. In sechs große Abschnitte ist der Band eingeteilt, nach den sechs Gefängnissen, in denen Mandela inhaftiert war. Die Abschnitte sind jeweils mit einem erläuternden, einordnenden Text eingeleitet und auch zwischen den Briefen gibt es immer wieder biografische Notizen, Kommentare, Erläuterungen. Man kann der Biografie und den Ereignissen also gut folgen. Auf verschiedenen Faksimiles kann man zudem seine Handschrift studieren. Es gibt ein Personenregister, eine Gefängnischronik, eine gesonderte Übersicht von Personen, Orten, Ereignissen – der Leser ist also bestens informiert und kann sich gut zurechtfinden.

Eine neue Biografie zeichnet ein etwas anderes Bild Mandelas

Inwiefern diese Briefauswahl allerdings repräsentativ ist, lässt sich kaum beurteilen. Der Band wurde massiv gefördert von der Nelson Mandela Foundation. Zusammengestellt wurden die mehr als 250 Briefe von der Herausgeberin Sahm Venter, die als „Senior Researcher“ der Stiftung vorgestellt wird. Ein unabhängiges Gremium war an diesem Werk also nicht beteiligt.

Aus dieser Briefauswahl entsteht ein reines und auch rührendes Bild Mandelas als Familienmensch und treu sorgender Vater. In Stephan Bierlings Biografie (Nelson Mandela. Rebell, Häftling, Präsident. C. H. Beck Verlag) hingegen erfahren wir, dass Mandela kein Familienmensch gewesen sei, und wir vernehmen darin sogar etwas von häuslicher Gewalt in seiner ersten Ehe.

Bis die Heldenfigur Nelson Mandela menschliche Züge erhält, werden weitere Recherchen und Veröffentlichungen hinzukommen müssen. In dieser Briefauswahl hat man nun Originaltexte Mandelas vorliegen und keine bearbeiteten, sogenannt autorisierten Zeilen. Insofern ist es eine Fundgrube, um einem Helden der Moderne etwas näher zu kommen. „Ich war gar nicht mutig“, gestand er im Dezember 1992, knapp drei Jahre nach seiner Freilassung, in einem Gespräch, „aber man musste so tun als ob…“ Würden doch mehr Menschen so tun als ob.

Nelson Mandela: Briefe aus dem Gefängnis. Herausgegeben von Sahm Venter. Aus dem Englischen von Anna und Wolf Heinrich Leube. C. H. Beck Verlag, München 2018. 760 Seiten, 28 Euro

Zur Startseite