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Jean-Claude Juncker zum Beginn des EU-Gipfels.

© Olivier Matthys/AP/dpa

Update

Symptom für ein gespaltenes Europa: Die Krise der EU geht weit über Personalfragen hinaus

Spätestens seit der Nacht und dem Vormittag ohne Ergebnis in Brüssel ist klar: Es geht auch um das Selbstverständnis Europas. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

In den Tagen und Wochen vor dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union drängt sich ein unschöner Verdacht auf: Könnte der Brexit nur ein erstes Symptom für ein Auseinanderfallen der Europäischen Union sein? Ein Indiz dafür, dass die Partikularinteressen vieler Mitgliedsstaaten inzwischen so auseinandertreibend sind? Einzig die materiellen Vorteile scheinen noch zu zählen, die das jeweilige Land aus dem Bündnis zieht.

Oder liegt es nur daran, dass diese EU keine starken politischen Führer mehr hat, die in Krisensituationen die Richtung zu einer Lösung vorzeichnen können?

Für beides gibt es Indizien. Frankreich und Deutschland waren über fast Jahrzehnte hinweg der gemeinsame Motor der europäischen Einigung. Die vom politischen und wirtschaftlichen Potential her wichtigsten Mitgliedsstaaten konnten die Zögerer und Bremser mitreißen in des Wortes doppelter Bedeutung: Sie konnten Zweifler überzeugen, und auch einmal ihre Macht in den Gremien ausspielen.

Das funktioniert nicht mehr. Angela Merkel hat den Zenit ihres politischen Wirkens überschritten, und das liegt nicht daran, dass sich das politische Europa Gedanken und Sorgen über ihre Gesundheit macht. Sie ist im eigenen Land nicht mehr unumstritten, zur „lame duck“ geworden, von der jeder weiß, dass sie nicht mehr antritt und dass ihre Koalition in Umfragen längst die Mehrheit verloren hat.

Den Lösungsweg aus der Führungskrise Europas, den sie in Osaka vorgeschlagen hat, wollen viele EU-Staaten nicht mehr mitgehen. Dass sie, die Vertreterin der konservativen Volksparteien, einen Sozialdemokraten als künftigen Kommissionspräsidenten vorschlug, verzeihen ihr ihr Länder nicht, in denen Parteien aus der EVP-Familie noch stark sind.

Macron hat keinen Welpenschutz mehr

Der zweite wichtige europäische Machtfaktor, der französische Staatspräsident, hat sich im Streit um die europäischen Spitzenämter selbst entzaubert. An Emmanuel Macrons Widerstand ist Manfred Weber, der CSU-Mann, mit seiner Kandidatur für das Amt des EU-Präsidenten gescheitert. Gegen ihn gab es, wegen des Fehlens exekutiver Erfahrung, begründbare Bedenken.

Dass Macron seine Ablehnung freilich bis zu persönlichen Herabsetzungen verschärfte, war weit unter jenem staatsmännischen Niveau, dessen er sich selbst gerne rühmen lässt. Macron muss lernen. Vor fünf Jahren, nach der letzten Europawahl, gab es ihn auf der europäischen Bühne noch nicht. Aber wer so auftritt wie er, genießt keinen politischen Welpenschutz mehr.

Die Partei, die er vertritt, muss ihren Platz in den politischen Familien Europas erst noch finden. Bei den Liberalen, zu denen er seine Partei „En Marche“ rechnet, reichte es auf der europäischen Ebene noch nicht einmal zu dem Spitzenkandidaten, der mit Weber von den Konservativen und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten hätte konkurrieren können.

Wer sich selbst so überschätzt, den lassen dann eben auch einmal politische Routiniers gegen die Wand laufen. Dazu reichte Angela Merkels Kraft jedenfalls noch.

Polen und Ungarn wollen ein anderes Europa

Von den Großen Europas konnte die Streitschlichtung also nicht kommen. Dass auch vor allem mittel-ost-europäische EU-Staaten in vielen grundsätzlichen Fragen anders ticken als die altgedienten Europäer der ersten Jahrzehnte, wie die Benelux-Staaten, Spanien, Portugal, und die Nordeuropäer. Das machte zuletzt die Ablehnungsfront gegen den niederländischen Sozialdemokraten Timmermans klar.

In seine Zuständigkeit, als Mitglied der EU-Kommission, fielen die Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn wegen derer allzu penetranten Verstöße gegen Grundprinzipien demokratischen Zusammenlebens. Wenn nicht nur Polen und Ungarn ihn deswegen ablehnen, machen sie auch deutlich, dass sie ein anderes Europa wollen.

Aber welches? Eines, das sich nur noch auf das Verteilen von Geld konzentriert? Das die Flüchtlingsproblematik alleine Staaten wie Italien und Griechenland überlassen möchte? Ein Europa, das nach starken politischen Führern verlangt? Das Meinungsfreiheit für eine rechtsstaatliche Qualität minderer Güte hält? Nein, dieses Europa ist sich über seine Fundamente nicht mehr einig.

Krise der EU ist viel tiefer

Es ist zu befürchten, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk mit seinem verdienstvollen Kämpfen für einen Lösungsvorschlag aus der personellen Krise das Grundproblem nicht heilen kann. Denn wenn am Ende ein Kompromiss herauskommt, in dem alle prominenten, bislang genannten Persönlichkeiten keinen Platz mehr finden, wird das niemand überzeugen.

Die Krise der Europäischen Union, das ist spätestens seit der letzten Nacht und dem Vormittag ohne Ergebnis wohl jedem klar, ist viel tiefer gehend als der Streit darüber, ob nun Manfred Weber oder Frans Timmermans der neue EU-Kommissionspräsident sein sollen.

Es ist ein Streit darüber, ob man überhaupt noch will, was diese Union seit ihrer Gründungscharta sein soll: ein Bündnis friedliebender, freiheitlicher und demokratischer Staaten, die überzeugt davon sind, dass nur ein vereintes Europa einen Platz in der globalisierten Welt behaupten kann.

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