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Auf einem Pritschenwagen erreichen syrische Flüchtlinge am Donnerstag Reyhanli in der Südtürkei. Den Minengürtel vor der Grenze haben sie verängstigt, aber heil passiert.

© Bulent Kilic/AFP

Syrien: Auf der Suche nach Schutz in der Türkei

Eine halbe Million syrischer Flüchtlinge erwartet die Türkei dieser Tage. Das sind weit mehr als bisher angenommen. Ankara will helfen – und schließt eine Intervention im Nachbarland nicht mehr aus.

Die Türkei rechnet mit Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, weit mehr als bisher angenommen. Die „extremen Vorfälle“ beim Nachbarn könnten bis zu 500 000 Menschen in die Flucht treiben, sagte Ahmet Lütfi Akar, der Leiter des Türkischen Roten Halbmonds, der größten Hilfsorganisation in der Türkei. Die Vereinten Nationen sowie die USA und Saudi-Arabien sind nach seinen Worten bereit, den Türken bei der Aufnahme der erwarteten Flüchtlingsmassen zu helfen.

Dafür sollen neue Zeltstädte und Containersiedlungen gebaut werden. Doch selbst die größten Zeltstädte könnten nicht ausreichen, wenn der Flüchtlingsstrom wirklich so anschwillt wie von Akar erwartet. Die türkische Regierung deutete deshalb erstmals ihre Bereitschaft an, eine Schutzzone für die Flüchtling auf syrischem Boden einzurichten. Die Zahl der Flüchtlinge in den derzeit bestehenden sieben türkischen Auffanglagern an der Grenze zwischen den beiden Nachbarstaaten hatte sich in den vergangenen Tagen stark erhöht und 14 700 erreicht. Über Nacht seien noch einmal 267 Flüchtlinge hinzugekommen, hieß es am Freitag in diplomatischen Kreisen in Ankara.

Aus Furcht vor einer weiteren Eskalation beim Nachbarn forderte das Außenministerium am Freitag alle Türken „dringend“ zur Rückkehr aus Syrien auf. Es gebe „erhebliche Sicherheitsrisiken“ für Türken in Syrien, erklärte das Außenministerium am Freitag in Ankara. Die Konsularabteilung der türkischen Botschaft in Damaskus werde kommende Woche geschlossen, teilte das Ministerium weiter mit. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte, ein dauerhafter Abzug des türkischen Botschafters aus Syrien sei möglich; der Diplomat befindet sich derzeit zu Konsultationen in Ankara.

Wie der Rückkehrappell zeigt, erwartet die türkische Regierung, dass die Lage in Syrien eher schlimmer als besser wird. Die von Halbmond-Chef Akar genannte Dimension von bis zu einer halben Million Flüchtlinge geht allerdings weit über alle bisher bekannten Szenarien der Türkei und der Vereinten Nationen hinaus. Erst vor wenigen Tagen hatte die UN erklärt, 200 000 Syrer seien wegen der Kämpfe im eigenen Land zu Flüchtlingen geworden, während 30 000 Menschen das mehr als 21 Millionen Einwohner zählende Land verlassen hätten. Akar bezieht sich bei den weit höheren Zahlen seiner Ernstfallplanung auf die Massenflucht irakischer Kurden nach dem ersten Golfkrieg im Jahr 1991. Damals flohen Hunderttausende vor einer Racheaktion von Saddam Hussein in die Türkei. Die Betreuung der Menschenmassen überforderte die Türkei, es gab Hunger und Krankheiten. Auch kamen damals viele PKK-Kurdenrebellen mit den Flüchtlingen über die Grenze.

Ähnliches will Ankara nun verhindern. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wies die regionalen Behörden im Grenzgebiet an, ihre Kapazitäten zur Aufnahme von weiteren Flüchtlingen zu prüfen. Laut Halbmond-Chef Akar werden die bereits vorhandenen Auffanglager derzeit auf eine Kapazität von 40 000 Menschen ausgebaut. Wenn die Zahl weiter steigen sollte, werde internationale Hilfe abgerufen. Nach Presseberichten hat der Rote Halbmond ernste Probleme, genügend Zelte zu beschaffen, weil viele derzeit noch als Notunterkünfte im Erdbebengebiet im ostanatolischen Van dienen.

Besorgt ist die Türkei auch über Versuche der syrischen Streitkräfte, die Flucht von Zivilisten und Deserteuren zu verhindern. Vize-Premier Besir Atalay warf den Syrern erneut vor, Teile des Grenzgebietes zu verminen. Nach Presseberichten kamen in den vergangenen Tagen viele verletzte Flüchtlinge in der Türkei an. Je nach Entwicklung werde auch über die Einrichtung von Pufferzonen nachgedacht, sagte Atalay in Fernsehinterviews. In der türkischen Öffentlichkeit wird bereits seit längerem über den Aufbau von Schutzzonen für Zivilisten und Deserteure auf syrischem Gebiet diskutiert. Die syrische Opposition fordert die Einrichtung solcher Zonen seit Monaten; nach ihrer Einschätzung würden Schutzzonen den Zusammenbruch des Regimes in Damaskus beschleunigen, weil sich Soldaten wegen der sicheren Gebiete leichter von ihren Einheiten absetzen könnten. Wie und von wem solche Zonen gesichert werden könnten, ist derzeit aber unklar. Türkische Regierungspolitiker hatten in jüngster Zeit eine Intervention in Syrien nicht mehr ausschließen wollen, auf eigene Faust will Ankara allerdings nicht handeln. Infrage kommt laut Experten eine Friedenstruppe aus Soldaten der Nahost-Region, wie beispielsweise Katar sie fordert.

Ministerpräsident Erdogan verwies in Sachen Intervention auf wichtige Entscheidungen, die am 2. April in Istanbul bei der zweiten Konferenz der „Freunde Syriens“ anstünden, einer Gruppe von Staaten, die den Druck auf die syrische Führung erhöhen will. Im Internet forderten syrische Aktivisten am Freitag eine sofortige Militärintervention der arabischen und muslimischen Staaten. Und sie riefen zu erneuten Demonstrationen auf – im gesamten Land. (mit AFP)

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