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In Aleppo trägt am Sonntag, 3. Mai, ein Mann einen verletzten Jungen durch die Straßen. Eine Schule war Angaben von Aktivisten zufolge von einer Bombe des Assad-Regimes getroffen worden.

© REUTERS/Hosam Katan

Syrien: Der Prototyp der arabischen Misere

Der Westen ist fixiert auf den IS und vergisst dabei den Krieg in Syrien. Ein Kommentar.

Egal ob Aleppo, Homs, Idlib, Damaskus oder Raqqa – Tod und Verderben in Syrien sind allerorten, schwerste Verbrechen alltäglich geworden. Der endlose Strom von Twitter-Fotos mit blutverschmierten Babys oder bombenzerfetzten Kindern übersteigt jedes seelische Fassungsvermögen. Mindestens 220 000 Menschen haben ihr Leben verloren. Hunderte sterben jeden Monat in den Folterkellern des Regimes. Eine halbe Generation von Kindern wächst ohne Schulbildung auf.

Die Aufmerksamkeit gilt allein den bärtigen Mördern vom "Islamischen Staat"

Doch nur dann, wenn irgendwo in Syrien die bärtigen Mördergesellen des „Islamischen Staates“ auftauchen, kehrt die Aufmerksamkeit der Welt für ein paar Tage zu diesem vergessenen Krieg zurück. Wie kürzlich bei der Terrorattacke auf das palästinensische Lager Yarmouk im Süden von Damaskus. Seit zwei Jahren bereits umzingeln Assads Schergen das Vorstadtviertel und hungern es aus. Einst lebten dort 160 000 Vertriebene aus dem heutigen Israel. 70 Prozent der Wohnungen wurden von Fässerbomben des Regimes zerstört. Bereits im Januar 2014 gingen die ersten apokalyptische Bilder um die Welt, als Abertausende der Eingeschlossenen in ihren Ruinen für Essensrationen der Vereinten Nationen anstanden.

Die gesamte Region taumelt in den Niedergang

Zudem übertönen im Nahen und Mittleren Osten inzwischen andere Kriegsschauplätze den permanenten Gefechtslärm in Syrien. Praktisch die gesamte Region taumelt in einen Niedergang, der unaufhaltsam scheint. Im Kampf gegen die Islamisten steht die nationale Zukunft des Irak genauso auf dem Spiel wie das einmalige Weltkulturerbe des Zweistromlandes. Mit Libyen zerfällt zudem der erste Anrainerstaat des Mittelmeerraums.

Der Krieg im Jemen hat das Potenzial, die Arabische Halbinsel und damit die Tankstelle der Welt mit in den Strudel der arabischen Selbstzerstörung zu reißen. Noch nie konnte Al Qaida im Jemen, die gefährlichste Filiale des Terrornetzwerkes, so ungehindert operieren wie heute. Unter dem Kommando des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al Baghdadi kämpfen mittlerweile 6000 Europäer. Viele von ihnen werden eines Tages als ideologisch verblendete und gewissenlose Kampfmaschinen in ihre Heimatländer zurückkehren. Terrorkommandos in Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten haben mittlerweile dem „Islamischen Staat“ Gefolgschaft geschworen. Ihre Heimatländer machen nahezu den gesamten südlichen Saum des Mittelmeeres aus, auf dem sich gleichzeitig das größte Flüchtlingsdrama seit Ende des Zweiten Weltkriegs abspielt.

Auswege sind nicht in Sicht, sämtliche diplomatischen Initiativen sind festgefahren

Immer mehr Verzweifelte aus dem Nahen Osten riskieren die lebensgefährliche Überfahrt nach Italien in überfüllten und verrosteten Kähnen. Im zurückliegenden Jahr 2014 waren es 140 000 Männer, Frauen und Kinder – nicht weniger als viermal so viele wie im Jahr zuvor. Mindestens 3000 sind ertrunken, wahrscheinlich sehr viele mehr. 120 000 syrische Bürgerkriegsopfer leben inzwischen in Deutschland.

Gangbare Auswege jedoch sind nicht in Sicht, sämtliche diplomatischen Initiativen, ob in Genf oder in Moskau, haben sich festgefahren. Stattdessen greift die regionale Polarisierung, die seit gut vier Jahren Syriens Tragödie befeuert, weiter um sich. Überall werden die Fronten zwischen Sunniten und Schiiten härter und verbissener. Dazwischen zerrieben sehen sich die ethnischen und religiösen Minderheiten, die einst Charme und Vielfalt des Orients ausmachten. Syrien aber ist zum Paradigma der arabischen Misere geworden – mit seinem blutrünstigen Regime, den regionalen Kontrahenten auf seinem Territorium sowie seiner Unglücksrolle im westöstlichen Machtpoker.

Je länger der Konflikt noch andauert, desto destruktiver und unlösbarer wird er werden. Kein Wunder, dass international inzwischen nur noch beklemmende Ratlosigkeit herrscht. Sie aber darf sich nicht auswachsen zu einer globalen Gleichgültigkeit. Das zumindest ist die gesamte Welt den Opfern schuldig.

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