zum Hauptinhalt
Im völlig zerstörten Aleppo gibt es für die Menschen keine Zukunft mehr.

© Abdalrhman Ismail/REUTERS

Update

Syrien: Flucht aus Aleppo: An der Grenze zur Türkei droht humanitäre Katastrophe

Zehntausende Bewohner der syrischen Stadt Aleppo fliehen angesichts der immer heftiger werdenden Kämpfe. 30.000 sollen an der türkische Grenze ausharren. Und es werden mehr.

An der türkisch-syrischen Grenze droht eine neue humanitäre Katastrophe. Der Vormarsch der syrischen Regierungstruppen auf Aleppo treibt Abertausende Menschen in die Flucht. Männer, Frauen und Kinder verlassen in Scharen die einstige Handelsmetropole in der Hoffnung, Schutz in der benachbarten Türkei zu finden - auch wenn die Grenze dort geschlossen ist. „Hunderte Geschosse gingen über unseren Köpfen nieder. Wir können kaum glauben, dass wir es da herausgeschafft haben“, erzählt Abu Haitham, der wie so viele andere in den vergangenen Tagen aus Aleppo in Richtung Grenze geflohen ist. „Es ist schlimm zurzeit, aber Gott wird uns helfen“, fügt er hoffnungsvoll via Skype hinzu.

Assads Truppen rücken vor

Unterstützt durch russische Luftschläge ist Syriens Armee in den vergangenen Tagen nördlich der Großstadt vorgerückt, die teilweise in der Hand von Rebellengruppen ist. Nun haben die Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad die wichtigste Nachschubroute der Aufständischen von Aleppo zur türkischen Grenze abgeschnitten. Nur eine Straße dorthin ist noch offen.

In der Nähe der geschlossenen Grenze am Übergang Bab al Salam sowie in der Stadt Asas harren bis zu 30.000 Flüchtlinge aus, wie das UN-Büro für Nothilfekoordinierung (OCHA) in Amman der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Ob und wann die Menschen in die Türkei eingelassen werden würden, war unklar.

Weitere 70.000 seien aus Lagern in Nordsyrien auf der Flucht Richtung Türkei - das bereits 2,5 Millionen Menschen aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen hat.

Die Rebellen sind jetzt sowohl von den Regierungstruppen als auch von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) umzingelt. Zudem hat die Al-Nusra-Front, der syrische Ableger von Al-Kaida, in den vergangenen Wochen Hunderte - wenn nicht Tausende - schwerbewaffnete Kämpfer von der Nachbarprovinz Idlib nach Aleppo verlegt.

„Wir rechnen mit schweren humanitären Folgen“

„Wir fühlen uns verlassen. Die Menschen, die im Osten Aleppos geblieben sind, können sich eine Flucht schlichtweg nicht leisten“, beklagt Aktivist Omar Halabi in Aleppo via Skype. Und Ismail Abdullah beschreibt über Facebook, was Einwohnern wie ihm am meisten Angst macht: „Die Menschen fürchten, belagert zu werden.“ Krankenhäuser seien schwer beschädigt, Bäckereien gingen die Vorräte aus, die Angst vor dem Verhungern gehe um - die Nachrichten von Hungertoten in belagerten Städten wie Madaja haben die Einwohner aufgeschreckt.

„Die Lage ist extrem instabil. Wir rechnen mit schweren humanitären Folgen“, sagt Pablo Marco von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). „Wir beobachten bereits große Menschenmassen, die sich auf der Suche nach Schutz Richtung türkische Grenze bewegen.“ Seine Organisation wolle die dort gestrandeten Flüchtlinge mit dem Nötigsten versorgen. Unter ihnen ist auch eine Frau, die verzweifelt in eine TV-Kamera schreit: „Da sind die russischen Flugzeuge, der "Islamische Staat" und die Iraner. Wie sollen wir uns Ihrer Meinung nach selbst retten?“

Die türkische Hilfsorganisation IHH durfte über die Grenze, um den Menschen das Nötigste zu bringen - Wasser, Lebensmittel und Decken. Mindestens acht IHH-Lastwagen fuhren über die Grenze und zurück. Nach türkischen Presseberichten haben die türkischen Behörden einen Notplan zum Empfang von Flüchtlingen vorbereitet. Seit Freitag werden neue Zelte in einem bereits bestehenden Lager in der Nähe des Grenzübergangs aufgestellt. Angesichts des Flüchtlingsdramas forderten EU-Vertreter die türkische Regierung auf, ihre Grenzen zu öffnen. Es gelte nach wie vor die Genfer Konvention, "wonach Flüchtlinge aufzunehmen sind", sagte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Samstag beim EU-Außenministertreffen in Amsterdam. „Wir werden unsere Politik der offenen Tür fortsetzen“, hatte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Donnerstag in London bei der Syrien-Geberkonferenz gesagt. Die regierungsnahe türkische Zeitung „Yeni Safak“ berichtete, Versorgungsgüter, unter anderem Zelte und Nahrung, würden aus der Türkei über die Grenze gebracht.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) Steinmeier zeigte sich zuversichtlich, dass die Türkei in der Lage sein werde, zahlreiche weitere Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien aufzunehmen. „Die Türkei hat Erfahrungen mit der Unterbringung und Beherbergung von syrischen Flüchtlingen“, sagte er. Vor dem Start der Münchner Sicherheitskonferenz sollen die Friedensgespräche für Syrien - über deren Stocken UN-Sondervermittler Staffan de Mistura den Sicherheitsrat am Freitag informierte - wieder in Gang gebracht werden. In der bayerischen Landeshauptstadt ist eine Syrien-Verhandlungsrunde mit Vertretern aus fast 20 Staaten geplant. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass auch die Außenminister Saudi-Arabiens und des Irans teilnehmen werden. Es wäre die erste Begegnung von Regierungsvertretern der beiden Rivalen seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen Anfang Januar.

John Kerry macht Assad schwere Vorwürfe

US-Außenminister John Kerry machte Syriens Machthaber Baschar al-Assad und Russland schwere Vorwürfe. Mit ihren Bombardements töteten sie Zivilisten „in großer Zahl“, sagte Kerry am Freitag in Washington. „Das muss aufhören“, forderte er.

Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Regierungen, die für die Angriffe auf Aleppo verantwortlich seien, „scheinen ein Scheitern der Bemühungen um eine politische Lösung in Kauf zu nehmen“.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warf Russland vor, den Konflikt mit seinen Bombardements gegen Rebellen anzuheizen. Frankreichs UN-Botschafter François Delattre verurteilte die Offensive des syrischen Regimes. „Man kann von der Opposition nicht erwarten, dass sie mit einer Pistole an der Schläfe verhandelt“, sagte Delattre am Freitag in New York.

Moskau wies die Schuldzuweisungen zurück. Russland setze sich für eine friedliche Lösung des Konflikts ein, unterstütze die syrische Regierung aber im Kampf gegen den Terrorismus, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Die russische Luftwaffe unterstützt seit Ende September die Offensive der syrischen Regierungstruppen mit Raketen- und Bombenangriffen. (rtr/dpa/AFP)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false