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Syrien: In der Kälte von Damaskus

Was soll er bloß tun? Demonstrieren gehen? Der Student Wahid ist verunsichert. Denn er weiß nicht, wem er vertrauen kann. Die langen Jahre der Diktatur und Überwachung haben in Syrien ein Klima der Angst geschaffen.

Noch ist die Sonne nicht untergegangen, noch ist es mild in Damaskus. Aber das wird sich ändern.

Als sie das letzte Mal richtig groß gefeiert haben, war Wahids größte Sorge die Anzahl der „girls“ gewesen. „Wie viele Mädchen kommen heute?“, hatte er durchs Haus gerufen und „für dich genug“ zur Antwort erhalten. Seine Wohngemeinschaft hatte darüber gelacht, die jungen Männer und Frauen, die arabischen und ausländischen. Sie hatten Kaffee und Anisschnaps getrunken und Importbier aus der Türkei, sie hatten Johnny Cash gehört und arabischen Pop, die norwegischen Studentinnen hatten sich im Dabke versucht, einem traditionellen syrischen Tanz, und später waren sie noch alle in die Disco gefahren und hatten dort weitergefeiert, bis es Morgen wurde. Das war vor fünf Monaten.

Jetzt ist wieder ein Donnerstagabend, der Abend, der in der arabischen Welt das Wochenende einläutet, und wieder steht Wahid vor dem Pizzaladen in der rot leuchtenden Al Qaimariyya Street, die durch die Altstadt führt, und wartet auf die Fatayers, kleine Pizzateilchen, die gerade in den Ofen geschoben wurden. Wenn sie fertig sind, werden sie wieder in eine große Plastiktüte gepackt werden, mit der er dann durch die Altstadtgassen eilt, bis hin zu dem kleinen Laden, der alkoholische Getränke vertreibt. Er wird Arrak und Importbier kaufen und zurück zu seiner Wohngemeinschaft gehen, wo die anderen auf ihn warten. Alles wie immer. Und doch alles anders.

Seit Wochen gibt es in Syrien Proteste, Aufmärsche und Demonstrationen, die von der Staatsmacht niedergeschlagen werden. Während Präsident Baschar al Assad weiter darauf besteht, die rigide Führung des Landes garantiere Stabilität und Sicherheit, werden die Forderungen der Demonstranten wagemutiger, grundsätzlicher. Hatten sie zunächst Geld und Arbeit gefordert, verlangen sie jetzt Freiheit, „Assad, geh nach Hause“, auch das trauen sie sich inzwischen zu rufen.

Allerdings fand dieser Aufstand des Volkes gegen die seit Jahrzehnten herrschenden Immerselben – vor Baschar regierte fast 30 Jahre lang dessen Vater Hafiz – fast ausschließlich in kleineren Orten statt, selten in Damaskus, wo bisher auch keine Panzer aufgefahren wurden. Vor den Ministerien nicht, vor den Behörden nicht, vor dem Parlament nicht. Damaskus sieht nicht anders aus als sonst. Lediglich an den Ausfallstraßen in die Provinzen sind mehr Polizeikontrollen als zuvor. Sichtbar ist dagegen, dass die Menschen in der Hauptstadt gelähmter, furchtsamer, mutloser erscheinen als die im Rest des Landes.

An diesem Donnerstagabend sind jedenfalls die Damaszener Altstadtgassen leer, sie werden sich in dieser Nacht auch nicht mehr füllen. Wahid läuft vorbei an leeren Telefonshops und Souvenirläden, vorbei an den Plakaten von Hisbollah-Chef Nasrallah und Staatspräsident al Assad, die in den Schaufenstern hängen. Die vielen jungen Leute, die sich hier sonst treffen, sie bleiben zu Hause. Und viele könnten nicht genau sagen, warum.

Im Haus der Wohngemeinschaft ist inzwischen Fadi eingetroffen, „Welcome to Disneyland!“, ruft er, als er die norwegischen Studentinnen sieht und die anderen WG-Bewohner oder deren Freunde, die im Hof sitzend auf Wahids Pizzateilchen und Importbier warten. Und dann erzählt er von Schüssen in der Bagdad Street, nur ein paar Minuten entfernt von ihrem Haus. Das Geplauder und Gelächter verstummt. Es seien auch Streubomben eingesetzt worden, hat ein anderer gehört. Kann das sein? Streubomben gegen die eigene Bevölkerung? Ist die Grenze zu Jordanien eigentlich offen? Fahren Taxis in den Süden? Daraa liegt ganz im Süden des Landes, direkt an der jordanischen Grenze, der Ort, in dem alles losging. Der Fernseher läuft ohne Ton. Er zeigt das flimmernde Programm von Al Dschasira. Verwackelte Aufnahmen von Panzern, die durch Daraa fahren.

Dass es vor allem in kleinen, abgelegenen Städten und Dörfern zu Protesten kommt, liegt daran, dass die Menschen dort nichts mehr zu verlieren haben, während in Aleppo oder Damaskus die Mittelschicht wohnt. Außerdem ist auf dem Land die Vernetzung besser. Die Menschen kennen sich, die meisten sind miteinander verwandt. Die Angst, vom Nachbarn verraten zu werden, willkürlich verschleppt zu werden, ist kleiner als in den großen Städten, in denen das Misstrauen der Bürger schier unüberwindlich geworden ist in den Jahren diktatorischer Herrschaft und engmaschiger Überwachung. Mindestens vier Geheimdienste arbeiten in Syrien, oft aneinander vorbei, sie stehen im Ruf, ineffektiv zu sein, aber auch unberechenbar. In Damaskus fanden sich bisher nur kleine Gruppen zu Protesten zusammen. Zu klein und übersichtlich, um Deckung zu bieten für diejenigen, die sich nicht zu den Tapferen oder den Entschlossenen zählen. Wer in Damaskus demonstrierte, tauchte danach oft unter. Auch einer von Wahids Freunden ist seit Wochen nicht mehr auffindbar.

Wahid hat inzwischen die Pizzateilchen und die Getränke in der Küche abgestellt und seinen Computer angemacht. Er sucht aktuelle Meldungen und checkt sein Facebook-Konto. Am liebsten wäre er längst weg. Er wollte Animation in Irland studieren, aber sein Visumsantrag wurde ohne Begründung abgelehnt. Also blieb er, studierte an der Damaszener Kunsthochschule und holte sich Europa ins Haus, indem er die Wohngemeinschaft gründete. Sie zeigt ihm hautnah, wofür jetzt im Land Blut fließt: eine Idee von Freiheit. Selber demonstrieren? Lieber nicht. Er wartet ab.

Wahid verbringt viel Zeit am Computer. Er postet und chattet und twittert. Saugt Informationen auf und gibt sie weiter. Es gibt so viele Fragen und so wenige Antworten. Alle ausländischen Korrespondenten mussten das Land verlassen. Und selbst für Syrer ist das, was gerade geschieht, schwer zu durchschauen. Wirklich bestätigte Informationen gibt es wenige. Wer ist die Opposition? Was will sie? Wohin steuert das Land? Was kommt nach Assad? Wer weiß was?

Isa, 26, eine der Norwegerinnen, kam vor fünf Monaten nach Damaskus. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, wird sie wieder zurück nach Hause fliegen. Wenn am Nachmittag die Freitagsgebete beginnen, nach denen es in den vergangenen Wochen zu den Demonstrationen gekommen ist, wird sie schon lange in der Luft sein. Seit am Karfreitag in Damaskus, Homs und Latakia Scharfschützen wahllos in demonstrierende Gruppen schossen und bis zu 100 Menschen dabei starben, rufen fast alle Botschaften ihre Landsleute zur Heimkehr auf. Die Deutsche Botschaft hat ihr Personal auf ein Minimum reduziert, auch Mitarbeiter der deutschen Kulturinstitute und Entwicklungsorganisationen wurden bereits ausgeflogen.

Isa macht Musik an, wieder Johnny Cash. „What have I become my sweetest friend? Everyone I know goes away in the end …“ Der Rest des Songs geht in dem zeitgleich einsetzenden Gebetsruf des Muezzins aus der nicht weit entfernten schiitischen Moschee unter.

Isa sagt: „Es ist ein bisschen so, als verlasse man ein sinkendes Schiff.“ Zurück bleiben die, die sich entschieden haben abzuwarten, wie Wahid, und die, die nicht weg können, so wie Fadi.

Fadi öffnet sein drittes Bier. Er ist 25 Jahre alt, Palästinenser, und er wohnt bei seiner Großmutter im Flüchtlingsviertel Al Yarmouk außerhalb von Damaskus. Sein Vater hat ihn rausgeworfen. Als strenger Muslim tolerierte er den freizügigen Lebenswandel von Fadi nicht mehr: Alkohol, Discos, ausländische Freundinnen – das passt nicht ins Bild einer vorbildlichen Familie.

Fadi leidet spürbar unter dem Streit, doch sein Stolz ist groß. Der Vater solle sich entschuldigen, verlangt der Sohn, stattdessen habe der ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Und die Mutter müsse jetzt Hijab tragen, den Schleier, das gehe auch nicht. Aber was geht dann? Kommt jetzt der große Wandel im Land? Nein, aus den aktuellen politischen Diskussionen hält er sich heraus. Keinen Satz will er dazu sagen. Lieber träumt er. Von einem Studium in Europa, das er doch nie antreten wird. Er hat keinen Pass und bekommt kein Visum. Er sagt: „Es ist so ungerecht, dass der Ort, an dem man geboren ist, die Nationalität, die Perspektiven eines Menschen bestimmen.“

Isa schlägt ihm vor, er könne doch mal über einen Sprachkurs versuchen nach Europa zu kommen. Aber das ist ihm zu wenig. Schließlich hat er einen Job in Damaskus, den lässt er nicht wegen einer ungewissen Idee sausen. Und überhaupt: Was denken die Leute, die Familie, wenn alles schiefgeht und er als Versager zurückkommt und nicht mal mehr einen Job hat? Nein, das Risiko ist Fadi zu groß.

Mittlerweile diskutieren Isa, Christian, der Deutsche, Wahid und Mustafa, der fürs Demonstrieren ist, aufgeregt. Es geht um die Rolle der ausländischen Medien. Die syrischen Fernsehsender zeigen stündlich einen Propagandafilm, in dem ein Mann, während er sich rasiert, mit Al Dschasira telefoniert und immer wieder mit einer Flasche auf den Tisch klopft, um Schüsse zu simulieren. Die Bilder wirken. Immer öfter geben Syrer den ausländischen Medien die Schuld an den Unruhen. „Allah, Syrien, Baschar und sonst nichts“, das war der Slogan, den die Grundschüler der an das Haus grenzenden Schule zwei Tage vor der großen Pro-Assad-Demonstration einstudiert haben.

Als Isa vor drei Wochen mit Freunden eine Wanderung in den Bergen unternahm, stellte sich ihnen in einem kleinen Dorf eine selbst ernannte Bürgerwehr, mit Stöcken bewaffnet, entgegen. Bereit, das Land gegen die ausländischen Wanderer zu verteidigen, in denen sie Abgesandte derjenigen sahen, die Unglück ins Land bringen.

Die Menschen sind verunsichert, weil sie gegeneinander aufgehetzt und ausgespielt werden. Das zwingt sie, über Loyalitäten nachzudenken, sie womöglich infrage zu stellen. In Syrien spielt die Zugehörigkeit zu den Familien, den Clans, der Region und natürlich der Religion eine große Rolle. Viele Damaszener haben die Stadt verlassen und sind in ihre Heimatorte gefahren, um jetzt bei ihren Familien zu sein. Die sonst bunt zusammengewürfelt Tür an Tür leben, ziehen sich zunehmend in ihre Gemeinschaft zurück. Im Fernsehen zeigt Al Dschasira zum wiederholten Male Aufnahmen aus Daraa. Handyaufnahmen, vielleicht sogar manipuliert, was weiß man noch? Nur eines, sagt Mustafa, ist gewiss: dass in den vergangenen Tagen und Wochen Menschen gestorben sind. Er sagt, dass Daraa nur ein Probelauf war, dass ein Exempel an der gesamten Bevölkerung statuiert werden solle. Jeder solle sehen: Nicht nur er, der einzelne Demonstrant, riskiert im Aufbegehren sein Leben, sondern er riskiert das Leben seines gesamten Clans.

Je länger der Abend in der internationalen Wohngemeinschaft dauert, desto offener reden auch die Syrer. Als suchten sie die Grenze, die zu überschreiten ist, hinter der danach kein Weg zurückführt. Aber dann will doch nicht jeder darüber hinaus. Zum Abschied sagt Mustafa zu Isa: „Ihr müsst gehen, aber wir sind Syrer, wir müssen bleiben ... Das ist unser Land.“ Isa nickt.

Die Sonne ist längst untergegangen, es ist tiefe Nacht, und in Damaskus ist es kalt geworden. Das ist die Spätfolge eines Wetterphänomens. Im Winter war La Niña über Syrien hereingebrochen, die schlimmste Kaltfront seit 40 Jahren. Aber das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum es den Menschen in Damaskus in diesen Zeiten manchmal eiskalt ist.

Anja Pietsch

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