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Mit seiner Entschlossenheit zum Krieg hat Recep Tayyip Erdogan die meisten seiner Landsleute schockiert.

© dapd

Syrien-Konflikt: Was hat Erdogan vor?

Das ist der türkische Premier nicht gewohnt. Auf einmal sind die meisten gegen ihn. Kriegsangst geht im Land um. Und alle fragen: Was treibt den Premier im Syrien-Konflikt an?

Ein sonniger Sonntagnachmittag in Istanbul. Recep Tayyip Erdogan ist in den Stadtteil Ataköy gekommen, um eine neue Kläranlage einzuweihen, der Auftritt ist ein Heimspiel für den türkischen Premier. Das Festzelt in Ataköy ist gut gefüllt mit Ministern, Lokalpolitikern und mehreren hundert Fahnen schwenkenden Anhängern von Erdogans Regierungspartei AKP, die Fernsehsender übertragen landesweit live. „Die Türkei ist stolz auf dich“, skandiert die Menge. „Und ich bin stolz auf euch“, erwidert Erdogan lächelnd. Er spricht über die Leistungen seiner Regierung, über die Unfähigkeit der Opposition. Die Menge jubelt. Dann spricht er über den drohenden Krieg mit Syrien. Der Jubel verstummt.

Das ist neu für den erfolgsverwöhnten Erdogan. Er, der sonst so trittsicher wie kein anderer türkischer Politiker darauf achtet, seine Anhänger bei Laune zu halten, fährt in der Syrien-Politik einen höchst unpopulären Kurs. Warum?

In Ataköy lässt Erdogan nicht erkennen, was ihn treibt. Seine Bewegungen am Pult sind ruhig und gelassen. Er wirkt entspannt, wenn er den plötzlichen Stimmungsumschwung im Festzelt bemerkt hat, dann zeigt er es nicht.

Der 58-Jährige gibt den Staatenlenker, der mit der Last der Verantwortung umgehen kann. Opposition und Medien könnten es sich leisten, an der Politik der Regierung herumzukritteln, aber das sei billig, sagt er. „Man muss jeden Augenblick auf Krieg gefasst sein.“

Auf Erdogans Befehl hat die türkische Armee Syrien mit Artillerie beschossen, nachdem zwei Frauen und drei Kinder auf der türkischen Seite der Grenze von einer syrischen Granate getötet worden waren. Seitdem gibt es fast jeden Tag irgendwo an der 900 Kilometer langen Grenze neuen Ärger. Das Parlament hat in aller Eile ein Auslandsmandat beschlossen, um Truppen nach Syrien schicken zu können. Gegner Erdogans sprechen von einem Blankoscheck für den Krieg.

Die Eskalation hat die türkische Öffentlichkeit schockiert. Bis tief in die Wählerschichten der AKP reicht die Skepsis gegenüber der Syrien-Politik des Premiers. Vier von fünf Wählern sind gegen ein militärisches Eingreifen in Syrien, hat eine Umfrage ergeben. Doch Erdogan redet weiter wie ein Feldherr. Seine Gegner sagen, er habe sich schon viel zu sehr in Syrien eingemischt. Vielleicht zu sehr, um noch zurückzukönnen. Täglich treffen neue türkische Panzer und Kampfjets an der Grenze ein. Zeitungen berichten von einem Plan Ankaras, der als letzte Möglichkeit eine Intervention mit Bodentruppen in Syrien vorsieht.

Was hat Erdogan vor? Fest steht, dass der türkische Ministerpräsident ein Politiker ist, der strategisch denken und handeln kann. In den vergangenen zehn Jahren hat er aus dem früheren Armenhaus Türkei eine aufstrebende politische und wirtschaftliche Regionalmacht gemacht. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes hat sich verdreifacht, die Türkei ist heute Mitglied der Gruppe der 20 stärksten Volkswirtschaften weltweit. Die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines fliegt mehr Länder an als alle anderen Airlines auf der Welt. Vielen Türken geht es heute besser als vor zehn Jahren, sie haben Erdogan drei Wahlsiege mit stetig steigenden Wähleranteilen beschert. Aber sie wollen keinen Krieg.

Erdogan weiß das, aber besteht darauf, dass die Türkei entschlossen auf alle Gefahren aus Syrien reagieren muss. Auch wenn das Risiko eines Krieges steigt. „Sei bereit für den Kampf, wenn du Frieden willst“, lautet ein altes türkisches Sprichwort. In diesen Tagen zitiert es der Premier immer wieder.

Es ist nicht allzu lange her, dass Erdogan Assad einen Bruder nannte

Was Erdogan Entschlossenheit nennt, ist für seine Gegner gefährliches Macho-Gehabe. „Damit hat er das Land an den Rand des Krieges mit Syrien gebracht“, sagt der Oppositionspolitiker Adnan Keskin. Und dann gebraucht Keskin eine Wendung, die Kritiker Erdogans immer dann ins Feld führen, wenn der Ministerpräsident nach ihrer Meinung mal wieder zu weit geht: „Mit dem Stil von einem aus Kasimpasa“ habe Erdogan die Türkei an den Rand des Abgrundes geführt.

Kasimpasa, das ist ein Istanbuler Stadtteil, eine als Schlägerviertel bekannte Gegend, in der vorwiegend konservative Kleinbürger leben und die so ganz anders ist als das weinselige Vergnügungsviertel Beyoglu gleich nebenan. Hier ist Erdogan geboren und aufgewachsen, als Sohn eines Fährboot-Kapitäns, der aus Rize an der Schwarzmeerküste nach Istanbul gezogen war. In seiner Kindheit verkaufte Erdogan auf den Straßen von Kasimpasa Sesamkringel, um zum Familieneinkommen beizutragen. Sein Vater war ein strenger Mann. Als Erdogan einmal als Kind einen Nachbarn beschimpfte, der ihn geschlagen hatte, wollte sein Vater den jungen Erdogan zur Strafe mit einem Seil an den Füßen kopfüber an die Decke hängen. Ein Verwandter ging dazwischen. Eine Jugend in Kasimpasa war nichts für Zartbesaitete.

Erdogans Vater war es auch, der seinem damals 22-jährigen Sohn, der wegen seiner Frömmigkeit und seinem fußballerischen Talent „Imam Beckenbauer“ genannt wurde, eine Profi-Karriere untersagte. Dabei hatte Erdogan Angebote von mehreren Spitzenclubs. Der Vater aber war dagegen. Erdogan fügte sich, arbeitete bei der Istanbuler Nahverkehrsbehörde, studierte Betriebswirtschaft und ging schließlich in die Politik. Schon als junger Mann hatte er sich in der damaligen Islamisten-Partei engagiert. Schnell stieg er auf, im Jahr 1994 kam sein Durchbruch: Erdogan wurde zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt.

Im Amt machte er zunächst mit islamistischen Sprüchen auf sich aufmerksam – der „Imam Beckenbauer“ wurde zum „Imam von Istanbul“. Jedenfalls bezeichnete er sich selber so. Bald aber zeigte sich, dass Erdogan mehr Pragmatiker war als Eiferer. Während seiner Zeit als Oberbürgermeister verbesserte sich das alltägliche Leben in der Metropole merklich. Erdogan sorgte für eine funktionierende Müllabfuhr und ließ marode Wasserleitungen reparieren – unter anderem.

Auf nationaler Ebene aber löste der junge Islamist bei vielen Befürchtungen aus. Als er die Gedichtzeile „die Moscheen sind unsere Kasernen“ öffentlich zitierte, wurde ihm das als religiöse Volksverhetzung ausgelegt und der Prozess gemacht. „Nicht mal Ortsvorsteher“ könne Erdogan noch werden, freuten sich seine Gegner, als er 1998 sein Amt als Oberbürgermeister verlor und ins Gefängnis musste. Doch Erdogan nutzte die Monate in der Haft für eine strategische Neuausrichtung der islamisch-konservativen Politik in der Türkei. Nach seiner Entlassung gründete er die AKP, die 2002 auf Anhieb die Parlamentswahlen gewann. Wenige Monate später war er Ministerpräsident.

Erdogan ist stolz auf seine Herkunft. Für seine Gegner jedoch ist Kasimpasa eine Chiffre zur Beschreibung des ungehobelten Polterers, der zum Ministerpräsidenten aufgestiegen ist, aber sein Schlägergehabe nicht abgelegt hat. Erdogans Dünnhäutigkeit ist berüchtigt. Bei einem Besuch in der westtürkischen Provinz packte er vor einigen Jahren einen Teenager aus Wut über dessen regierungskritische Sprüche am Nacken. Als Regierungschef hat Erdogan reihenweise Journalisten, Karikaturisten und andere politische Gegner verklagt, weil er deren Kritik als Beleidigung auffasste.

Oppositionspolitiker wie Adnan Keskin befürchten, dass Erdogan auch die Syrien-Krise persönlich nimmt. Dem syrischen Staatspräsidenten Baschar al Assad wirft der türkische Premier „Staatsterror“ vor. Dabei ist es noch nicht allzu lange her, dass Erdogan Assad einen „Bruder“ nannte.

Muharrem Ince gehört zu jenen in Ankara, die das nicht vergessen haben. Der Fraktionsvize der linksnationalen Oppositionspartei CHP trat vor einigen Tagen mit einem Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 2008 vor die Presse. Damals waren Assad und seine Ehefrau Asma in ihren Ferien in den Badeort Bodrum gekommen, wo sie von Erdogan und seiner Frau Emine herzlich begrüßt wurden.

Die Erdogans und die Assads waren tatsächlich eng befreundet damals. Asma al Assad erwärmte mit ihrer modern-westlichen – und kopftuchlosen – Erscheinung sogar das Herz der türkischen Säkularisten, die sich für die fromme Muslimin Emine Erdogan schämen. Die 57-jährige Emine und die um 20 Jahre jüngere First Lady aus Damaskus gingen so herzlich miteinander um wie Mutter und Tochter. „Wir haben Urlaube miteinander verbracht, von denen die Presse nie etwas erfuhr“, sagte Emine Erdogan später.

Assad hat ihn belogen - das verzeiht er nicht

Das war die große Zeit der „Null-Problem-Politik“ Ankaras. Erdogans Außenminister Ahmet Davutoglu verfolgte das ehrgeizige Ziel, alle Meinungsverschiedenheiten mit den Nachbarn beizulegen. Mehr denn je brauchte die Türkei als aufstrebende Wirtschafts- und Exportmacht ruhige Verhältnisse in ihrer Umgebung.

Ankara hoffte durch den Schwung des Arabischen Frühlings auf eine neue Art von demokratischer Stabilität in der Region und auf eine ruhige Nachbarschaft – unter Führung der Türkei. Noch vor zwei Jahren dachte die türkische Regierung laut über die Bildung einer Wirtschaftsunion von der Türkei bis nach Marokko nach, die als mögliche Alternative zur EU angepriesen wurde.

Die Beziehungen der Türkei zu Damaskus bildeten das Juwel dieser Politik. Die beiden Nachbarn kamen sich unter Erdogan und Assad so nahe, dass die Visumspflicht aufgehoben wurde und die Kabinette gemeinsam tagten. Der Kaufhunger der Syrer bescherte den türkischen Grenzprovinzen einen nie dagewesenen Wirtschaftsboom.

Doch das ist vorbei. Statt „Null Problemen“ habe die Türkei inzwischen „Null Freunde“ in der Region, sagen Regierungskritiker. Die Türkei gehört zu den schärfsten Gegnern Assads überhaupt. Und Damaskus wirft der Türkei vor, Terroristen zu unterstützen.

Nach dem Ausbruch der regierungsfeindlichen Demonstrationen in Syrien im März 2011 versuchte Erdogan zunächst, Assad zu Reformen zu bewegen. Er schickte seinen Außenminister mehrmals zu Verhandlungen nach Damaskus. Assad machte Zusagen, die Erdogan öffentlich als Zeichen des guten Willens des syrischen Präsidenten lobte – um dann erleben zu müssen, dass Assad ihn belogen hatte.

So etwas verzeiht Erdogan nicht. Seine Frau gab kürzlich einen Einblick in die persönliche Enttäuschung, die sie und ihr Mann mit den Assads erlebten. „Wenn wir jemanden als Freund in unsere Herzen aufnehmen, dann sind wir wirkliche Freunde“, erklärte sie in einem Zeitungsinterview. Über Asma al Assad sagte sie: „Ich habe ihr mein Herz geöffnet.“ Kurz nach Ausbruch der Unruhen in Syrien ließ sie der syrischen Präsidentengattin ausrichten, dass sie mit ihr sprechen wolle. „Sie hat mich nicht zurückgerufen. Ich konnte es nicht glauben.“

Man darf annehmen, dass Emine Erdogan die traurige Geschichte vom Ende der Freundschaft mit den Assads nicht ohne Zustimmung ihres Mannes öffentlich erzählt hat. So herzlich Erdogan als Freund ist, so unerbittlich ist er als Feind.

Aber lässt er sich wirklich von seinen persönlichen Gefühlen lenken? Oder ist die harte Linie gegenüber Syrien vielleicht am Ende nur eine Nebelkerze, in deren Schutz die türkische Regierung vorsichtig nach politischen Auswegen aus der Krise sucht?

Ein Zeichen dafür kam von Außenminister Davutoglu, der Assads Stellvertreter Faruk al Scharaa kürzlich als Übergangspräsidenten ins Gespräch gebracht hat. Bis dahin hatte Erdogans Regierung jede Lösung unter Einbeziehung der syrischen Baath-Partei abgelehnt. Gleichzeitig rückt die Regierung von den syrischen Rebellen ab: Sie kündigte ihre Gastfreundschaft für die Führung der „Freien Syrischen Armee“ auf und sorgte dafür, dass die Rebellen die Türkei verließen und ihr Hauptquartier nach Syrien verlegten.

Bei der Feierstunde für die neue Kläranlage in Ataköy verliert Erdogan darüber kein Wort. „Die Türkei wird an der Seite unserer syrischen Brüder stehen, bis das syrische Volk seinen Kampf um sein Leben, seine Ehre und seine Rechte gewonnen hat“, ruft der Premier beschwörend. Der Applaus bleibt dünn.

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