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Der norwegische Politiker Jan Egeland war Koordinator für Nothilfe der Vereinten Nationen. Jetzt besuchte er syrische Flüchtlinge in ihren Lagern.

© rtr

Syrische Flüchtlinge: Der schlimmste Krieg seit Beginn dieses Jahrhunderts

Die syrischen Flüchtlinge erleben eine humanitäre Katastrophe. Die Welt schaut zu. Ein Hilferuf.  

Mit großer Sicherheit wurden in den Vororten von Damaskus hunderte Syrer durch chemische Waffen getötet. Dies kann zu einer  militärischen Reaktion führen. Abgeordnete werden zurückgerufen, Kriegsschiffe sind auf dem Weg in den Nahen Osten und wieder einmal verlagert sich die Aufmerksamkeit weg von dem Leid vor Ort, hin zu den Streitigkeiten zwischen Politikern und Staaten.

In den vergangenen zehn Tagen habe ich einige der fast zwei Millionen Flüchtlinge getroffen, die erschöpft in die Türkei, in den Libanon, Irak oder nach Jordanien geflohen sind. Mehr als ein Zelt in einem überfüllten Lager oder eine Matratze in einer improvisierten Sammelunterkunft können wir ihnen nicht bieten, und doch sind sie erleichtert und dankbar: "Hier gibt es wenigstens etwas Sicherheit und etwas zu essen – dort gab es nur Zerstörung, Verzweiflung und Tod", erzählte mir ein Familienvater. "Auch die Hoffnung hat Syrien verlassen." In der vergangenen Nacht war er mit seiner Frau, sechs Kindern und seiner Schwiegermutter geflohen. Es war ihre erste Nacht zusammen mit über 100 000 anderen Flüchtlingen im Lager Zaatari in Jordanien.

Keine Hilfe und kein Schutz für Zivilisten erreichte sein Viertel in Dara in den mehr als zwei Jahren Krieg, und immer noch ist keine Hilfe in Sicht. Während sie darauf warteten, über die jordanische Grenze entkommen zu können, hörten sie Gerüchte, dass im Norden Tausende nach dem Einsatz chemischer Waffen starben. "Es werden noch unzählige Syrer fliehen, wenn die Angriffe auf die Zivilbevölkerung nicht aufhören und in den Kriegsgebieten keine Hilfe ankommt", beklagte er.

Alle Flüchtlinge, die ich traf, berichteten das Gleiche. Mehr als 800 Tage und Nächte, in denen Gräueltaten verübt wurden und die überlasteten Hilfsorganisationen wenig oder gar keinen Zugang zu zahllosen besetzten Orten hatten, ließen nur einen Ausweg zu: einen erzwungenen Exodus riesigen Ausmaßes. Die syrische Katastrophe ist ohne jeden Zweifel der schlimmste Krieg seit dem Beginn dieses Jahrhunderts. Statt dass regionale und globale Mächte kollektiv Druck ausüben,  gießen externe Akteure Öl ins Feuer.

Ich war Zeuge der meisten großen Kriege und Katastrophengebiete dieser Generation, habe aber noch nie einen so bedauernswerten Mangel an gemeinsamem internationalem Handeln erlebt. Das ist keine Naturkatastrophe. Diese Katastrophe ist von A bis Z menschgemacht, und Menschen können sie beenden und Syrien neue Hoffnung geben.

Zwei Millionen Flüchtlinge wurden von vier großzügigen Nachbarn Syriens aufgenommen, und es ist unbedingt erforderlich, dass die Grenzen offen bleiben, damit syrische Zivilisten flüchten können. Syrische Kinder müssen Zugang zu Bildung erhalten, damit sie ihr volles Potenzial entwickeln können. Wir müssen alles tun, um die Gastgeber der Flüchtlinge und alle Flüchtlinge – einschließlich palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien – ausreichend zu unterstützen, bis sie  zurückkehren können.

Wir müssen Vertreibungen verhindern, indem wir in Syrien Hilfe dort bereitstellen, wo sie benötigt wird. Über vier Millionen verzweifelte Binnenflüchtlinge und Millionen weitere Menschen in Syrien müssen Zugang zu Hilfe und Schutz erhalten, bevor sie gezwungen sind, das Land zu verlassen.

Es ist noch nicht alles verloren. Erst kürzlich habe ich Schüler nach ihren Plänen für die Zeit nach der Schule gefragt. Viele wollten Ärzte, andere Geschäftsleute, Ingenieure oder Lehrer werden. Nicht ein Kind sagte, dass es ein Kämpfer oder Extremist werden wolle. Es gibt noch Hoffnung, aber viel Zeit bleibt nicht mehr.

Um eine Krise dieser Größenordnung zu lösen, muss die internationale Gemeinschaft sich einigen. Wir wissen, dass es funktionieren kann. Die syrische Regierung hat mit den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats kooperiert, als die UN-Inspektoren für Chemiewaffen Zugang  forderten. So einen Konsens brauchen wir jetzt, um Beschränkungen für den Zugang von Hilfsorganisationen aufzuheben und die notwendige humanitäre Hilfe für die Syrer im Land und die bereits geflohenen leisten zu können.

Der Autor ist ehemaliger UN-Koordinator für Nothilfe.

 

Jan Egeland

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