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Unter sich. Die Kinder leiden am meisten unter dem Bürgerkrieg.

© Adel Samara/SOS Kinderdörfer

Syrische Flüchtlinge: Mauern gegen Menschen

Die Türkei und Bulgarien wollen die Flüchtlinge aus Syrien möglichst fernhalten. Dabei wird die Not im Bürgerkriegsland immer größer – und der Winter kommt erst noch.

Es wird gestorben, gehungert und gefroren. Tag für Tag. Not und Leid in Syrien finden kein Ende. Nun soll es den Menschen nochmals erschwert werden, das Bürgerkriegsland zu verlassen. Ankara will eine Mauer errichten, um Syrer fernzuhalten. In der Türkei halten sich inzwischen rund 600 000 Vertriebene auf. Selbst in Istanbul, 800 Kilometer von der Grenze entfernt, kampieren Flüchtlinge.

Die Türkei tut mehr zur Versorgung syrischer Flüchtlinge als die meisten anderen Staaten. Zwei Milliarden Dollar hat die Regierung bisher für die Unterbringung und Ernährung der Syrer ausgegeben. Erst vor einigen Wochen ordnete das Gesundheitsministerium per Runderlass an die Regionalbehörden an, dass die Hilfsbedürftigen in staatlichen Krankenhäusern gratis zu behandeln seien. Doch die wachsende Zahl der Flüchtlinge und die unsichere Lage an der Grenze, wo Schmuggler und Kämpfer der Opposition vielfach ohne jede Kontrolle zwischen beiden Ländern pendeln, setzen die türkischen Behörden zunehmend unter Druck.

Der geplante türkische Wall bei Nusaybin ist nach offiziellen Angaben dafür gedacht, Schmugglern das Geschäft zu erschweren. Kurdenpolitiker vermuten dagegen, dass die Mauer dazu dienen soll, Verbindungen zwischen den Kurden auf beiden Seiten der Grenze zu kappen. Ankara befürchte Auswirkungen der Autonomiebestrebungen in Syrien auf die Minderheit im eigenen Land, sagen sie und sprechen von einer „Mauer der Schande“. In einem Grenzabschnitt wurde bereits ein drei Meter tiefer und zweieinhalb Meter breiter Graben ausgehoben.

Die Probleme verlagern sich in die Innenstädte

Am anderen Ende der Türkei entsteht ebenfalls eine Mauer. Sofia will mit dem 30 Kilometer langen Bauwerk die illegale Einreise von Syrern verhindern. Der Wall soll die aus der Türkei nach Bulgarien kommenden Syrer (derzeit haben 8000 Menschen dort Zuflucht gefunden) zwingen, die offiziellen Grenzübergänge zu nutzen, wie die Behörden mitteilten. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR rechnet allerdings damit, dass diese Abwehrmaßnahme viele Syrer in die Arme von Menschenschmugglern treiben wird. Staaten hätten zwar das Recht, ihr Territorium zu schützen, müssten dabei aber die Menschenrechte achten, sagt Taner Kilic, Vorsitzender des türkischen Flüchtlingshilfsvereins Mülteci-Der, am Freitag in Istanbul. „Man sollte nicht vergessen: Mauern halten Menschen nicht auf, sie bringen sie nur dazu, sich andere Wege zu suchen.“

In der Türkei verlagern sich die Probleme bei der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge zunehmend von den staatlichen Auffanglagern in der Grenzregion auf die Innenstädte. Nach Schätzungen des türkischen Katastrophenschutzamtes leben rund 200 000 Syrer in den Camps, aber doppelt so viele außerhalb der für sie vorgesehenen Zentren. Manche von ihnen kommen bei Verwandten unter, einige wenige können sich selbst Wohnungen leisten. Viele haben jedoch kein Dach über dem Kopf. Nach unbestätigten Berichten leben allein in Istanbul rund 100 000 Syrer auf der Straße und in Parks. Sie werden von Bevölkerung und Vereinen unterstützt, zum Beispiel durch Nachrungsmittelspenden und die Bereitstellung sanitärer Anlagen in Moscheen.

Die Anwesenheit der mittellosen Flüchtlinge schafft aber Probleme. Zeitungen melden, viele Syrer arbeiteten illegal zu Hungerlöhnen in kleinen Betrieben. Einige erhielten nach eigenen Angaben statt der versprochenen 200 Euro Monatslohn nur 40 Euro. Wehren können sich die Flüchtlinge nicht, denn ihre Arbeitsverhältnisse sind illegal. Dennoch wollen sie nicht mit denjenigen tauschen, die in Syrien ausharren müssen.

Jeden Tag wird es gefährlicher

Denn die Lage im Bürgerkriegsland bleibt katastrophal. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Tagtäglich kommen Tausende Schutzsuchende hinzu, die durch die anhaltenden Kämpfe alles verloren haben. Doch die vielen notleidenden Syrer können weder mit sicheren Unterkünften noch mit ausreichend Nahrung, Medikamenten und Kleidung versorgt werden. „Es ist ein Desaster“, sagt Rasha Muhrez, Leiterin der Nothilfe der SOS- Kinderdörfer in Syrien, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Allein im Raum Damaskus unterstützt die Organisation 20 000 Menschen.

Doch jeden Tag werde es schwieriger und gefährlicher, Hilfe zu leisten. „Wo es gestern noch ruhig war, können heute Granaten einschlagen und brutale Straßenkämpfe toben“, berichtet Muhrez. Außerdem gebe es überall Heckenschützen. „Kürzlich wurden in einem bislang friedlichen Stadtviertel von Damaskus zwei Kinder auf dem Schulhof angeschossen. So etwas passiert immer wieder.“

Und eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Zumal Gegner von Baschar al Assad weiter heillos zerstritten sind. Kein Wunder, dass einen Monat vor der geplanten Friedenskonferenz in Genf der internationale Druck auf die Opposition wächst, eine Zusage für das Treffen zu geben. Dessen ungeachtet will die „Nationale Koalition“ erst am 9. November entscheiden, ob sie teilnehmen wird.

Selbst wenn die Konferenz zustande kommen sollte, werden die Waffen sicherlich nicht sofort schweigen. Hilfsorganisationen warnen deshalb davor, dass sich die dramatische Situation in den kommenden Monaten nochmals verschärfen könnte. Denn der Winter steht bevor. „Das bereitet den syrischen Flüchtlingen größte Sorgen und ist eine enorme Herausforderung für die Helfer“, sagt Tankred Stöbe, Vorstandsvorsitzender von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland.

Die gesundheitlichen Folgen sind verheerend

Im Lager Domiz an der irakischen Grenze etwa, müssten Zehntausende in Zelten leben, die nicht wetterfest sind. Viele Bewohner hätten Angst vor dem Winter, wenn es unter null Grad kalt wird, wenn es regnet und schneit. „Die Menschen haben oft kein vernünftiges Dach über dem Kopf, besitzen nicht einmal Winterjacken, um sich vor der Kälte zu schützen“, betont Rasha Muhrez von SOS-Kinderdörfer.

Immer verheerender wirkt sich der fast vollständige Zusammenbruch des Gesundheitssystems aus: Erstmals hat sich jetzt der Verdacht auf einen möglichen Ausbruch der hoch ansteckenden Kinderlähmung erhärtet. Zwei Tests von Proben, die von 22 Erkrankten genommen wurden, sind laut der Weltgesundheitsorganisation WHO positiv ausgefallen. Man behandele die Situation als Beginn einer Epidemie, heißt es. Sollte sich die Befürchtung bestätigen, bestünde für 100 000 Kinder ein erhöhtes Ansteckungsrisiko.

Die in Syrien tätigen Mediziner von Ärzte ohne Grenzen waren zwar noch nicht mit Polio-Verdachtsfällen konfrontiert. Aber die Organisation hat Anfang des Jahres 75 000 Kinder in den Provinzen Aleppo und Idlib gegen Masern impfen lassen, um eine Epidemie zu verhindern. Dies zeige, dass die einst gut funktionierende Gesundheitsvorsorge nicht mehr existiere – mit katastrophalen Folgen für Millionen Syrer.

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