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Gäste und Mitwirkende singen bei der zentralen Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz (Rheinland-Pfalz) nach dem Festakt in der Rheingoldhalle die Nationalhymne.

© Foto: Arne Dedert/dpa

Tag der deutschen Einheit: Danke für die fehlende Dankbarkeit

Seit Jahrzehnten prägt dieser Begriff das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen: Dankbarkeit. Steinmeier vermied ihn. Das ist ein wichtiger Schritt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Valentin Feneberg

Sie waren alle immer so dankbar. Richard von Weizsäcker machte den Anfang, 1990, in der Berliner Philharmonie. „Aus ganzem Herzen empfinden wir Dankbarkeit und Freude“. Es war der Festakt zum ersten Tag der deutschen Einheit und von Weizsäcker der erste Bundespräsident des wiedervereinigten Landes. Roman Herzog empfand 1998 in Hannover „Dankbarkeit dafür, dass so viele befreundete Nationen uns auf dem Weg zur Einheit halfen“, Johannes Rau konnte zwei Jahre später in Dresden „dankbar zurückblicken“ auf die Wiedervereinigung, Horst Köhler verneigte sich 2006 in „Dankbarkeit und Respekt“ vor der Leistung der ostdeutschen Freiheitskämpfer. Joachim Gauck war 2013 in Stuttgart „dankbar für all das, was gewachsen ist“, und zwei Jahre später, zum 25. Jubiläum in Berlin, dankbar für die Solidarität der Westdeutschen. Frank-Walter Steinmeier vermied zum diesjährigen Einheitstag erstmals den Begriff – aus gutem Grund. 

Neun Tage liegen zwischen dem diesjährigen Tag der Einheit und dem Wahltag, der wie keiner zuvor die Zweiteilung Deutschlands illustriert. Oder muss es richtiger heißen: neun Tage und ein Wort?

Das Wort heißt: Undankbarkeit. „Und dann gibt es eine Undankbarkeit vieler Ostdeutscher“, hat der Theologe Friedrich Schorlemmer der „Mitteldeutschen Zeitung“ gesagt. Weil sie gar nicht wüssten, wie gut es ihnen gehe, hätten sie gewählt, wie sie gewählt haben.

Die Begriffe Dank und Undank taugen nicht für die politische Debatte

Geht es also um Dank oder Undank, wenn es um die Einheit geht? Wer soll wem dankbar sein? Taugt sie für eine politische Debatte? 

Die Idee, dass Dankbarkeit für die eigene Geschichte gemeinschaftsbildend ist, ist kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. In seinem Buch „Die Undankbaren“ von 1999 prangert der französische Philosoph Alain Finkielkraut die Selbstzufriedenheit der Menschen an, die sich undankbar gegenüber ihren Vorfahren nur auf das Jetzt konzentrieren. Doch Deutschland scheint besonders gern darüber nachzudenken. Kürzlich vertrat der Althistoriker Egon Flaig in der „Neuen Zürcher Zeitung“ eine ähnliche These. Er verurteilte die gegenüber ihrer Vergangenheit undankbare Gegenwart, die Halt nur noch in einem maßlosen „Hypermoralismus“ finde. Solche „verweigerte Dankbarkeit“ zerstöre die Grundlagen der Gesellschaft. Flaig verweist dabei auf historische Errungenschaften wie Demokratie, Wissenschaft und Menschenrechte, deren übergroßer Wert unter der andauernden, keinerlei Dankeslust erweckenden Beschäftigung mit Nazi-Deutschland verblasse. „Wenn sich die Dankbarkeit gegenüber den Gründern unserer aufklärerischen Kultur in Undankbarkeit verwandelt, dann lösen die europäischen Republiken sich auf“, schreibt Flaig. 

Man kann Flaig entgegenhalten: Ein kritischer Blick auf die eigenen Vorfahren, auf die Vorfahren einer ganzen Gesellschaft, bedeutet nicht die Ablehnung der Grundlagen dieser Gesellschaft. Echte historische Dankbarkeit differenziert. Die Deutschen können es ablehnen, Stolz zu empfinden für die Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg. Und es annehmen, dankbar für die friedlichen Proteste der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu sein. 

Der Umgang mit der Dankbarkeit ist heikel. Dankbarkeit wird erwartet – als Reaktion auf Wohltaten. Doch wenn etwas erwartet wird, entsteht Druck, und wo Druck ausgeübt wird, entsteht Ungleichgewicht. Um dieses nicht zuzulassen, kann der Dank verweigert werden. Das ignoriert allerdings die entlastende Wirkung von Dankbarkeit. Wer gedankt hat, ist mit dem Wohltäter quitt und frei. 

Im Fall des Mauerfalls dürfte die viel größere Frage als die nach der Dankbarkeit allerdings die nach der Wohltat sein. Um welche Wohltat geht es hier denn? 2001 erboste sich darüber Iris Gleicke aus Thüringen, damals stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und seit 2014 Ostbeauftragte der gerade abgewählten Bundesregierung: „Wir sitzen nicht mehr hinter der Mauer und machen mit glänzenden Augen die Westpakete auf. Dieses unsägliche, dieses unerträgliche Geschwätz und Geseiber, als hätte Helmut Kohl oder sonst jemand uns Ostdeutschen die Einheit oder die D-Mark geschenkt! Eroberer mögen Glasperlen verteilen – Partner teilen. Es geht um legitime Rechte.“

Die Ostdeutschen sollen dankbar sein? Diese Haltung zementiert Hierarchien

Allein daraus, dass einer seine legitimen Rechte erhält, erwächst kein Anlass zum Dank. Fest steht vielmehr: Eine Dankbarkeit, verstanden als Dankbarkeit der Ostdeutschen gegenüber dem Westen, untergräbt die deutsche Einheit. Denn so gedachte Dankbarkeit teilt dem Osten die Rolle eines Bittstellers zu, dessen Bitten allesamt erfüllt wurden. 

Auch die Vorwürfe, die aus dem Osten an den Westen kamen, Stichwort: Besserwessi, blieben in dieser hierarchischen Logik. Es meckerten die Armen über die Reichen, die Uninformierten über die Informierten, die Falsch-Angezogenen über die mit den richtigen Jeans. Eine Konfrontation auf Augenhöhe, eine selbstbewusste Gegenrede fand nicht statt. Oder hat jemals jemand die Lethargie der Westdeutschen in den entscheidenden Tagen des Jahres 1989 thematisiert? Wie sie in West-Berlin, in Hamburg, München oder sonstwo nur interessiert in ihre Fernseher schauten, um mitzubekommen, wie es da drüben weitergeht und ob denn nun auf Demonstranten geschossen würde - statt sich angesprochen zu fühlen, statt sich aufzuraffen zu einer Solidaritätsdemo, statt selber Plakate hochzuhalten, auf den denen ebenfalls „keine Gewalt“ steht. Statt also aus dem Aufstand hinter der Mauer eine erste gesamtdeutsche Sache zu machen. 

Dass das selten oder nie thematisiert wird, lässt darauf schließen, dass es keinerlei Erwartung in dieser Hinsicht gab. Und Dank und Undank hängen immer auch mit Erwartungen zusammen. Was die Erwartungen waren, wurde nicht besprochen. Man glotzte sich stumm an und rannte aneinander vorbei. 

An dem Desinteresse hat sich bis heute, wie es aussieht, nicht viel geändert. Man ist zufrieden, wenn man dem anderen einen Vorwurf machen kann. Und sei der noch so ungenau. So ignoriert der Vorwurf, das sehr gute Abschneiden der AfD im Osten sei ein Ausdruck der Undankbarkeit, ganz ungeniert die 19,2 Prozent für die Partei im bayrischen Deggendorf und die 21,1 Prozent in Duisburg-Neumühl. Und es bleiben ja noch die knapp 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die im Osten nicht die AfD gewählt haben. Sind diese im Umkehrschluss „dankbar“? Absurd? Na also. 

Was gesucht werden kann und soll, sind Erklärungen. Die findet man nur nie, wenn sich der Auftakt der Suche in hierarchiebestätigenden Vorwürfen erschöpft. Darum ist mit den Kategorien „dankbar“ und „undankbar“ keine Politik zu machen. Aber Politik zwischen neuen und alten Bundesländern muss gemacht werden. Über ein Vierteljahrhundert nach der Einheit gilt es, das deutsch-deutsche Verhältnis endlich zu gestalten. Als Richard von Weizsäcker bei der ersten Einheitsrede von Dankbarkeit sprach, ergänzte er, die Wiedervereinigung sei auch eine „große und ernste Verpflichtung“. Seit der Bundestagswahl ist diese Verpflichtung wieder spürbarer geworden. 

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