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Tagab-Tal: Nährboden des Aufstands

Taliban kontrollieren eine Oase, französische Truppen wollen sie vertreiben – und werden zurückgepfiffen.

Bäume, Felder, ein Fluss, von dem Bewässerungskanäle abzweigen. Viele Kilometer lang schlängelt sich die Oase Tagab durchs Geröll. Generationen hindurch haben die paschtunischen Bewohner dem Boden dies saftige Grün abgerungen, keinen einzigen Fußbreit an Häuser oder Wege verschenkt. Die Lehmgebäude sind an die äußerste Peripherie gerückt, wo sie dank ihrer Erdfarbe fast unmerklich in die Landschaft übergehen. Auf den Dächern haben Frauen Wäsche zum Trocknen ausgelegt. Hier und da steigt der Rauch der Feuerstellen auf. Inmitten der Parzellen machen sich Männer zu schaffen, graben mit Hacken den Boden auf.

Tiefer Friede. Tiefer Friede?

„Würden wir jetzt ins Dorf hinunterklettern, würde es Kugeln regnen.“ Capitaine Gerber wischt sich mit seinem Halstuch den Schweiß von der Stirn. Im Gewand von friedlichen Oasenbauern würden sich ein paar höchst zynische Charaktere verbergen. „Schießen aus den Fenstern oder von den Dächern. Kleine Jungen tragen ihnen ihre Munition, sechs, acht, zehn Jahre alt. Sobald wir das Feuer erwidern, halten sie uns die Kinder entgegen, wie Schutzschilde.“

Mit seinem roten Gesicht, olivfarbenem Schlapphut und T-Shirt und Battledress-Hosen wirkt der etwa dreißigjährige Hauptmann wie der Wiedergänger eines Offiziers aus den französischen Kolonialkriegen in Nordafrika – als sei er aus den 1950er Jahren nach Afghanistan gebeamt worden. Die Berghänge, Lehmdörfer und Oasen nördlich von Kabul ähneln auf fast unheimliche Weise dem marokkanischen oder algerischen Atlas. Selbst die neue Nato-Strategie stammt aus dieser Zeit, die Strategie, deren Vorreiter kürzlich zum Isaf-Oberkommandierenden in Afghanistan ernannt wurde, General David Petraeus: Unnachgiebige hart bekämpfen. Dialogbereiten Angebote machen: Geld, Infrastruktur, Brücken, Brunnen, Mädchenschulen. Wieso kooperieren die Bewohner von Tagab nicht?

„Pakistan“, sagt Colonel Jérôme Goisque unheilschwanger. In seinem Büro im Hauptquartier der Battle Group Bison in Camp Tora, der größten französischen Basis im Distrikt, skizziert der Kommandeur des 126. französischen Infanterieregiments die Lage. Auf einer Karte tauchen die drei Aufstandsführer des Tales auf, graphisch umgesetzt als schwarze schattenhafte Gestalten mit Paschtunenkappe und umgehängter Kalaschnikow: Abdul Razeq, Mullah Naim und Nur Agha. Geld und Nachschub stammen aus dem Nachbarland. Vom pakistanischen Geheimdienst ISI? Gut möglich, meint Colonel Goisque. Jedenfalls aus Pakistan. In Islamabad liege die Wurzel allen Übels. Sonst hätte man längst die Herzen und Köpfe gewonnen. Einige französische Isaf-Offiziere empfehlen, in Richtung Pakistan einen Zaun zu bauen, wie man das im Algerienkrieg 1954–62 Richtung Tunesien getan hat. Das Problem sind nur die Berge.

Ashuqullah Babarkakhail und Abdurrab Attashime tragen Paschtunenkappen, Bärte, Pluderhosen, so wie die schattenhaften Gestalten auf der Karte. Bloß keine Kalaschnikows. Die beiden Dorfchefs aus dem Tagab-Tal sitzen beim Tee. Was die Herzen und Köpfe der beiden Dorfchefs angeht, hat die Isaf sie bereits gewonnen. „Wir wollen Frieden und Entwicklung.“ Wieso kooperieren viele Familien mit den Taliban? Die zwei zucken die Achseln. „Wir können die Betreffenden nicht fragen. Dann würden wir auch umgebracht. Wie andere, von denen man annimmt, sie arbeiteten mit den Franzosen zusammen.“ Dann bricht es aus den beiden Dorfchefs heraus: Es ist leicht, das Tagab-Tal zu kontrollieren, sehr leicht, die Taliban haben bloß einige Dutzend Kämpfer. Aber man muss Fußtruppen hineinschicken, statt mit Konvois die Serpentinen langzufahren. In die kleinen Gärten, die Parzellen, die Haine, muss hinter die Häuser gucken, überall Checkpoints aufbauen. Die Franzosen tun das nicht, sie wollen keine eigenen Verluste riskieren. „Solange sie ihre Taktik nicht ändern, werden die Taliban immer stärker werden.“

Fußtruppen. Colonel Goisque ist jetzt bereit, sie loszuschicken. Tagab muss gesäubert werden. Das Tal ist ein Nährboden des Aufstands – und das nur zwei Fahrtstunden von Kabul entfernt. Am Nachmittag versammelt er seine Offiziere zu einem Briefing, auch die afghanischen Kommandeure sind geladen. De jure wird dies ihre Operation sein, die französische Armee wird ihnen nur Hilfestellung geben. De facto ist es umgekehrt. Die Afghanen fragt keiner. Sie lauschen, ohne sich zu beteiligen. Man wird nach einem Stufenplan vorgehen. Alles klingt logisch. Am Ende des Power-Point-Vortrags ist die gesamte Tal-Oase eingekreist. Man wird den Leuten noch einmal nachdrücklich Hilfe anbieten: Brunnen, Straßen, Mädchenschulen. Irgendwelche Fragen? Allez!

Um 16 Uhr 30 bricht das Vorauskommando in Richtung COP 46 auf, der letzten größeren Basis vor Tagab. Aus dem Innern des gepanzerten Mannschaftstransporters lässt sich die Straße nur über den GPS-Monitor des Fahrers verfolgen. Die lange Fahrt stimmt nachdenklich, was tun jetzt die drei Anführer unten im Tal? Bereiten sie sich ihrerseits auf ein Gefecht vor? Werden sie morgen um diese Zeit noch leben? Wen unter den französischen, den afghanischen Soldaten wird es treffen? Und: Werden die Taliban diesmal darauf verzichten, die kleinen Jungen, die ihre Munition tragen, als Schutzschilde hochzuhalten? Gegen 22 Uhr 30 rollt das Vorauskommando ins Tor von COP 46 ein. Zwischen den Fahrzeugen wird ein Biwak aufgeschlagen, Pritschen werden aufgestellt. Man schläft unter dem Sternenhimmel. Morgen um 2 Uhr 30 soll vorgerückt werden.

Da, gegen Mitternacht, rüttelt ein Hauptmann die anderen Offiziere wach: Die ganze Aktion ist abgeblasen. Zurück. Von den Pritschen ringsum ist genervtes Seufzen zu vernehmen. Colonel Goisque bemüht sich anderntags, den Abbruch zu erklären. Die Amerikaner, sagt er knapp. Die Amerikaner stecken hinter dem Befehl, das US-geführte Regionalkommando Ost. Die Taliban, so hätten die Amerikaner gemutmaßt, hätten sich wieder in die Lehmhäuser geflüchtet und wieder kleine Jungen hochgehalten. Kollateralschäden. Kurz vor der Wahl – ein schlechtes Bild.

Marc Thörner

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