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Politik: Tagebuch einer Vermeidung

Nachdem ich acht Jahre lang der gleichen, weder uninteressanten noch schlecht bezahlten Tätigkeit nachgegangen war, habe ich im Frühjahr 2001 gekündigt. Dem vorausgegangen waren erhebliche Differenzen mit meinem Arbeitgeber.

Nachdem ich acht Jahre lang der gleichen, weder uninteressanten noch schlecht bezahlten Tätigkeit nachgegangen war, habe ich im Frühjahr 2001 gekündigt. Dem vorausgegangen waren erhebliche Differenzen mit meinem Arbeitgeber. Die extrem hierarchischen und verkrusteten Strukturen des Unternehmens hatten mich bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich gegen mich wandten, kaum gestört. Das änderte sich, als mir deutlich gemacht wurde, die Hierarchie ernster zu nehmen als bisher, wenn ich mich nicht gefährden wolle. Ich hatte noch keinen neuen Arbeitsvertrag in der Tasche, als ich spontan kündigte. Als ich das erste Mal mit dem Arbeitsamt in Kontakt trat, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass es mir neben der Übernahme der Krankenversicherungskosten und der Zahlung des Arbeitslosengeldes so reichhaltiges Material für eine Niederschrift bieten würde. Genauso wenig beabsichtigt hatte ich das Spiel, das ich nunmehr fast ein Jahr betrieben habe. Es besteht darin, zwar formal allen Anforderungen und Aufforderungen des Arbeitsamtes nachzukommen, das aber so zu tun, dass es nie zum Abschluss eines Arbeitsvertrages kommt. Da ich sehr gut vermittelbar wäre, ist das gar nicht so einfach. Aber irgendwann habe ich eine Art sportlichen Ehrgeiz entwickelt und mein Ziel in der Arbeitsvermeidung gesehen. Das Arbeitsamt hat dabei großartig mitgespielt. Während ich am Anfang der Geschichte einige Male einbestellt worden bin und mich bei so vielen Firmen bewerben musste, dass ich nahezu ganztags beschäftigt war, flauten diese Aktivitäten nach drei bis vier Monaten rapide ab. Ich bekam keine Termine mehr und nur noch gelegentliche Bewerbungsaufforderungen. Da ich gemerkt hatte, dass überhaupt nichts passiert, wenn ich mal ein Vorstellungsgespräch absage oder mich gar nicht bewerbe, habe ich mich entspannt und nur noch die Minimalanforderungen erfüllt. Zu meinem Erstaunen ist mir aufgefallen, dass ich anfangs mit der gleichen Leistungsbezogenheit und Schnelligkeit wie im Arbeitsleben agiert habe. Völlig unangebracht, kann ich rückblickend nur sagen. Da ich nach den Eingangsritualen beim Arbeitsamt nie wieder ein einziges persönliches Gespräch mit einem Arbeitsberater hatte, ist es auch zu keiner unangenehmen Situation gekommen wie der, dass ich hätte belegen müssen, wie es um meine Eigeninitiative bestellt ist. Ein Jahr der Arbeitslosenexistenz, in dem am Ende des Monats immer pünktlich das Geld eintrifft, ist fast vorbei. Ich werde versuchen, mich für den Rest der Zeit weiter so durchzulavieren. Das wird klappen. Ich habe meine Zeit sehr genossen. Dazu muss ich aber sagen, dass mir die ganze Geschichte nicht möglich gewesen wäre, verfügte ich nicht noch über weitere Mittel. Klarzustellen bleibt, dass ich mit diesem Tagebuch nicht all denjenigen zu nahe treten möchte, die ehrlich arbeitslos sind und neben der schwierigen ökonomischen Lage häufig gravierende (Folge-)Probleme bis hin zur kompletten Demoralisierung zu bewältigen haben.

Anfang März 2001 habe ich gekündigt. Trotz Kündigung und meinem somit absehbaren Weggang schikaniert mich X weiter. Das nimmt mich so mit, dass ich beschließe, diese neuerliche Schikane zu sanktionieren. Da ich dazu keine andere Möglichkeit habe, als mich schlicht und einfach zu verweigern, schildere ich abends bei einem schon länger geplanten Arztbesuch mein Dilemma und bitte darum, krankgeschrieben zu werden. Der Arzt ist so nett und hilfreich, das zu tun.

Eingeladen

21. März. Ich nutze meine Krankschreibung, um morgens zum Arbeitsamt zu fahren. Da ich nicht gerne von Kollegen in der Stadt gesehen werden möchte, treffe ich dort kurz nach Beginn unserer Arbeitszeit ein. Der Sachbearbeiterin erkläre ich, ich stünde noch unter Vertrag und sei krankgeschrieben. "Krankgeschrieben? Dann geht das sowieso nicht". Das verstehe ich zwar nicht, riskiere aber lieber keine weiteren Fragen. "Aber nach Ende der Krankschreibung kann ich mich arbeitslos melden?" Sie schiebt mir einen Stoß auszufüllender Papiere zu. "Sind Sie durch die Arbeit krank geworden?" fragt sie, auf einmal sympathisierend. "Ja". Das ist ja keine direkte Lüge. "Haben Sie etwa selbst gekündigt?" Auch das bejahe ich. Sorgenvoll blickt sie mich an: "Dann bekommen Sie eine Sperrfrist von drei Monaten. Aber ich gebe Ihnen hier einen Extraformdruck mit, in dem Sie die Gründe für Ihre Kündigung niederlegen können. Werden Ihre Gründe akzeptiert, bekommen Sie Ihr Arbeitslosengeld ohne Sperrfrist ausgezahlt." Na, mit diesem Schrieb werde ich mir Mühe geben.

27. März. Frühmorgens bin ich wieder im Amt. Die gleiche Dame wie letzte Woche empfängt mich. Stolz präsentiere ich ihr meinen ausgefüllten Papierstapel nebst Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers. Als sie beim Überfliegen des Doppelblattes bei den Gründen für meine eigene Kündigung ankommt, sieht sie die beiliegende Diskette. Dieses unschuldige kleine schwarze Ding bringt sie leicht aus der Fassung: "So etwas hat noch nie jemand mitgebracht, das kennen wir hier nicht." Einige Tage später finde ich eine "Einladung" des Arbeitsamtes zur "Erstellung eines Bewerberprofiles" in meinem Briefkasten. Großer Gott, sie haben doch bereits alle Auskünfte über mich schriftlich! Aber da muss ich wohl hin. Das Arbeitsamt fängt schon an, mir lästig zu werden.

3. April. Punkt 9 Uhr bin ich im Arbeitsamt. Nach zehnminütiger Wartezeit weise ich gleich bei der Begrüßung darauf hin, dass ich um 10 Uhr arbeiten muss. Hoffentlich beschleunigt das die Sitzung. Die freundliche junge Frau, diesmal ist es eine andere, fragt mich, ob ich schon Bewerbungen laufen habe. Meine Antwort, bereits ein Vorstellungsgespräch bei einem im hiesigen Raum recht bekannten und renommierten Arbeitgeber gehabt zu haben, dessen Ausgang noch ungewiss sei, scheint gut anzukommen und wird schriftlich niedergelegt. Ich bin mir allerdings sicher, dass daraus nichts werden wird, denn ich fand den angebotenen Job nicht sehr interessant. Und das ist dem wachen Personalchef, mit dem ich das Gespräch geführt hatte, nicht verborgen geblieben.

Blaue Pappe

17. April. Drei Briefe vom Arbeitsamt im Kasten. Neugierig öffne und lese ich sie. In allen Fällen handelt es sich um die Aufforderung des Arbeitsamtes, sich schriftlich bei einer Agentur zu bewerben, die mich via AIS (Arbeitsamtinternetservice, dort werde ich "angeboten") ausfindig gemacht hat. Diese Agenturen möchten mich in ihren Bewerberpool aufnehmen, um mich so schnell wie möglich an einen passenden Arbeitgeber zu vermitteln. Ich bin perplex, dass bereits so schnell etwas passiert. Missmutig überlege ich, wie ich den Aufforderungen zwar nachkomme, aber so, dass mich niemand vermitteln, geschweige denn einstellen möchte. Da ich weiß, wie man ansprechende Bewerbungsmappen erstellt, kann ich dieses Wissen auch negativ verwerten. Also zu Woolworth und billigste Pappordner gekauft, mit Bedacht in leuchtendblau. Für seriöse Bewerbungen nimmt man schwarze oder weinrote Mappen.

Nun die Papiere: Computerfortbildung lasse ich weg, das Dienstzeugnis von meinem derzeitigen Arbeitgeber habe ich noch nicht, zum Glück, sodass eigentlich nur die Basispapiere überbleiben. Da mein Locher kaputt ist, locht er unregelmäßig und das sieht schlecht aus. Gut. Lichtbilder lege ich natürlich auch nicht bei. Ich habe in meinem alten Job Erfahrungen mit der Bewerberauswahl gemacht. So eine Mappe hätte das sofortige Aus bedeutet.

1. Mai. Als ich am Abend des 1. Mai von einem Familienfest zurückkomme, liegen im Briefkasten diesmal fünf Briefe des Arbeitsamtes. Dreimal die Aufforderung, mich bei einer Agentur zu bewerben. Das kenne ich jetzt ja schon. Und dann etwas Neues: Bitte um Direktbewerbung bei der sehr bekannten und angesehenen hiesigen Sozietät, Lex und Legis, die exakt jemanden mit meinem Profil sucht. Oh, verdammt! Das wird heiß. Denn diesen Brief muss ich, nachdem der Bewerbungsvorgang inkl. möglichem Vorstellungsgespräch abgeschlossen ist, unterschrieben und auf der Rückseite ausgefüllt ans Arbeitsamt zurückschicken und mitteilen, ob der Vertrag zustande gekommen ist oder nicht. Brief Nr. 5 lässt meine Laune auf den Gefrierpunkt sinken: "Einladung" ins Arbeitsamt für Donnerstag, den 3. Mai um 8.30 zur Erstellung einer Stellengesuchannonce für die Arbeitsamtszeitung "Markt und Chance". Ohne mich! Morgen muss ich zum Arzt, da lasse ich mich krankschreiben.

3. Mai. Die unfreundliche Ärztin, Urlaubsvertretung, mault, sie sähe keinen Grund, mich krankzuschreiben (ich ja auch nicht). Trotzdem tut sie es. Das verblüfft mich ungemein. Was hat sie davon?

Schnuppertermine

7. Mai. Die Krankschreibung ist zuende. Sozialversicherungs- sowie Lohnsteuerkarte habe ich zurück. Heute melde ich mich mit allen Unterlagen arbeitslos. Der Beamte ist schon genervt, als er mich hereinruft. Voller Bedenken sieht er meine Papiere durch. Sie gelten meiner Diskette. Eine Diskette kann er hier auf keinen Fall in den Computer schieben, das könnte das gesamte Arbeitsamtssystem sabotieren, Viren, alles ganz furchtbar... Seufzend erklärt er mir alles. "In meinem Job muss man Experte für vieles sein, für Steuerfragen, Familienrecht und noch so einiges mehr", sagt er dann am Ende etwas leidend, aber auch selbstzufrieden. "Ja, das stelle ich mir nicht einfach vor...", hauche ich und gebe ihm den weiblich-bewunderndsten Augenaufschlag, dessen ich mächtig bin. Die Audienz ist beendet, er verspricht, meinen Antrag weiterzuleiten. Nachmittags schicke ich meine grässlichen Mappen an diese schrecklichen Agenturen. Das Problem Lex und Legis habe ich einfach, und, wie ich finde, genial gelöst.: Ich habe ihnen schlicht ebenfalls so eine unglaubliche Woolworth-Mappe nebst Formbrief zukommen lassen. Hoffentlich wollen sie die gleich in den Müll werfen. Denn leider haben sich schon zwei Agenturen zwecks "Kennlerntermin" bei mir gemeldet.

10. Mai. Gewonnen! Meine Taktik hatte Erfolg. Denn heute finde ich einen großen Umschlag von Lex und Legis im Briefkasten. Aus eigener Erfahrung und durch meinen alten Job weiß ich: Ein großer Umschlag bedeutet Rücksendung der Bewerbungsunterlagen nebst Absagebrief, ein kleiner Umschlag Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. - Reiße ihn erfreut auf. Das überaus höfliche Absageschreiben wünscht mir alles Gute für die weitere Zukunft. Fabelhaft.

Geld vom Arbeitsamt

Mitte Mai. Das Arbeitsamt müllt mich mit weiteren Anfragen von Personalvermittlungs- bzw. Zeitarbeitsfirmen voll. Genervt schicke ich also meine liederlichen ("liederlich" war das Lieblingsadjektiv meines Großvaters und passt hier wirklich haargenau) Woolworthmappen in die Welt. Einige Agenturen haben sich bereits telefonisch gemeldet, zwei mit der Bitte um Rückruf auf meinem Anrufbeantworter. Ich habe diese Nachrichten einfach gelöscht. Anrufbeantworter funktionieren ja häufig nicht.

21. Mai. Von einem Wochenendtrip zurückkommend, finde ich zwei Einladungen zu Vorstellungsgesprächen bei Agenturen im Briefkasten. Und den Bewilligungsbescheid für das Arbeitslosengeld! Die Freude darüber wird allerdings durch die verhängte Sperrfrist von drei Monaten (in anderen Worten: drei Monate keinen Pfenning vom Arbeitsamt an mich, da ich selbst gekündigt habe und meine Gründe dem Amt als nicht schwerwiegend genug erscheinen) getrübt.

Bestes Zeugnis

6. Juni. Ein ganz schwarzer Tag! Kurz nach zehn eine Vorortfirma am Telefon, die mich nach Sichtung meiner - dürftigen - Bewerbungsmappe sofort zu einem Vorstellungsgespräch einladen will. Ich überlege fieberhaft, wie und wo ich noch negativ punkten könnte. "Ach", sage ich, "eine Frage, übernehmen Sie "Nur im Notfall". "Gut", verabschiede ich mich bis morgen. Dieses Thema werde ich weiter ausbauen. Bei einem Blick auf meine türkise Jeansjacke, an deren Kragen ein unübersehbarer Fleck prangt, bin ich auch in der Kleiderfrage schon wieder ein Stück weiter. Um 14.30 Uhr noch eine Agentur. Man will mich Montag "kennen lernen", wie es immer so schön heißt. Okay, Termin gemacht. Vielleicht schaffe ich es ja Freitag bei meinem - tatsächlich stattfindenden - Arzttermin, eine mindestens vierzehntägige Krankschreibung zu bekommen. Für heute reicht es mir. Ich gehe einfach nicht mehr ans Telefon.

8. Juni. Ein Din-A-4-Umschlag meines ehemaligen Arbeitgebers mit dem Vermerk "persönlich/vertraulich" im Briefkasten. Macht mir spontan ein schlechtes Gefühl. Der Inhalt ist das längst überfällige offizielle Dienstzeugnis. Bei der Lektüre möchte ich mich sofort einstellen! Der Schrieb macht mir gemischte Gefühle: Einerseits fühle ich mich in Arbeit und Person nachträglich anerkannt, andererseits macht mich ein so gutes Zeugnis noch besser vermittelbar. Da die Arbeitsplatzbeschreibung lückenhaft ist, werde ich um Ergänzung bitten. Was dazu führen wird, dass sich der Zeitpunkt, zu dem ich das kopierte Zeugnis mitverschicken kann, weiter hinauszögert.

11. Juni. Schon wieder ein Termin bei einer Arbeitsvermittlungsagentur. Das übliche Prozedere: Kaffee, Fragebogen ausfüllen. Es wird gefragt, ob ich in den letzten Monaten krank war, was ich bejahe. Die effiziente Dame sagt irgendwann mitfühlend, ja, ja, Sie müssen sich wegen des Arbeitsamtes hier vorstellen, nicht wahr? Ich bleibe lieber vage mit der Antwort und schränke meinen Betätigungswunsch wieder auf einen stark eingegrenzten Bereich ein. In diesem Bereich habe sie nichts, sagt sie erwartungsgemäß.

13. Juni. Mon dieu! Komme gerade von meinem Treffen mit Frau Leister, einer Headhunterin von Anfang Vierzig. Mir ist noch immer ganz elend, zumal sie mich ungeachtet der miesen Bewerbungsmappe, des unpassenden Outfits und meines pubertär-flapsigen Benehmens unbedingt vermitteln will. Auch meine Topgehaltsforderungen haben sie nicht irritiert. Ich habe das sichere wie ungute Gefühl, dass mir diese Frau ihren heißen Atem in den Nacken blasen wird.

Arzttermine

19. Juni, vormittags. Ein potentieller Arbeitgeber (über Frau Leister, wusste ich doch gleich) bittet auf dem Anrufbeantworter um Rückruf. Morgen habe ich einen Gynäkologentermin und werde mich um eine Krankschreibung bemühen. Nachmittags ruft leider eine Agentur (Dröge GmbH) an und bittet mich um ein Gespräch. Ich zicke wegen des Termins herum, der von seiten der Agentur diese Woche stattfinden soll, und schaffe es, ihn auf Montag kommender Woche festzulegen - in der Hoffnung, dass ich eine Krankschreibung bekomme und dann legitimiert wieder absagen kann.

20. Juni. Die unvermeidliche Frau Leister hat mir einen (wirklich netten) Brief geschrieben, in dem sie die Kontaktaufnahme durch eine Firma - die sich ja bereits gestern gemeldet hat - avisiert. Und sie bittet um Kopien meines letzten Dienstzeugnisses. Leider wird sich das jetzt alles hinauszögern, da ich glückliche Besitzerin einer Krankschreibung bin, die bis Ende nächster Woche gültig ist. So kann ich beruhigt nach London fahren. Frau Leister gegenüber habe ich ein wirklich schlechtes Gewissen. Sie macht sich so viel Arbeit, die zu nichts führen wird.

21. Juni. So, jetzt habe ich den Termin bei der Dröge GmbH gecancelt. Schade, hat die gar nicht irritiert, sie haben mir gleich einen neuen Termin für die Woche darauf gemacht. Geht mir auf die Nerven. Verdirbt mir richtig die Laune. Die Firma von Frau Leister lasse ich auch erst mal bis nächste Woche auf dem Anrufbeantworter ruhen.

Wir setzen das Tagebuch in den kommenden Tagen im

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