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Zwei Mädchen in der afghanischen Hauptstadt Kabul.

© Wakil Kohsar/AFP

Taliban auf dem Vormarsch: "Freiheitsrechte in Afghanistan bewahren"

In Verhandlungen mit den Taliban dürfen nicht zu große Zugeständnisse gemacht werden, warnt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Ein Interview.

Herr Ruttig, Sie sind gerade in Kabul. Wie ist derzeit die Sicherheitslage in Afghanistan?

Die Sicherheitslage ist unverändert schlecht, und die Taliban machen weiter Fortschritte. In vielen Gegenden wird schon nicht mehr gekämpft, weil die Taliban sie weitestgehend im Griff haben und die Distrikthauptstädte nur umzingeln. Seit dem Ende der ISAF-Mission 2014 hat sich die Situation insgesamt deutlich verschlechtert: Die Taliban haben mehr Gebiete erobert. Die Zahl der zivilen Opfer ist konstant auf höchstem Stand. Die Verluste der afghanischen Streitkräfte sind so stark nach oben gegangen, dass man die Zahlen 2018 für geheim erklärt hat. Der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist mit 54,5 Prozent wieder so hoch wie 2003.

US-Präsident Donald Trump erwägt einen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Sollten die Amerikaner gehen, würden auch die deutschen Soldaten nicht bleiben. Was würde ein Abzug der internationalen Truppen für das Land bedeuten?

Ein zu schneller Abzug aller Truppen würde bedeuten, dass einige Funktionen, über die die afghanischen Streitkräfte noch nicht verfügen, etwa Luftunterstützung und Aufklärung, einfach wegfallen. Manche Experten sagen, dass die Afghanen noch mindestens fünf bis zehn Jahre brauchen, bis sie das allein können. Es geht aber nicht nur um die Truppen. Problematisch wäre es ebenfalls, wenn auch die finanzielle Unterstützung wegfallen würde. Der afghanische Staat ist zu einem hohen Anteil von externen Mitteln abhängig. Hier in Kabul gibt es seit Jahren die Sorge: Wenn die Soldaten gehen, geht auch das Geld. Das muss verhindert werden. Derzeit sind die Taliban noch weit davon entfernt, den Sieg vor Augen zu haben. Dies wäre anders, wenn es einen überstürzten Abzug der internationalen Truppen gäbe und die Finanzhilfen wegblieben. Das könnte zu einem Zusammenbruch führen.

Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, eine Friedenskonferenz nach dem Vorbild der Petersberger Konferenz auszurichten, allerdings unter Einbeziehung der Taliban. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?

Deutschland kann an die Bonner Konferenz von 2001 anknüpfen. Aber zunächst müssten wir zu einer Situation kommen, in der eine solche Konferenz überhaupt sinnvoll ist. An diesem Punkt sind wir noch nicht. Bisher reden nur die USA und die Taliban. Die afghanische Regierung muss aber unbedingt mit am Tisch sitzen, was die Taliban bisher blockieren. Darauf sollte die Bundesregierung dringen. Die meisten Leute in Kabul, mit denen ich gesprochen habe, befürchten deshalb, dass ein Abkommen mit den Taliban über ihre Köpfe hinweg geschlossen wird. Auch wenn sie die Regierung kritisch sehen, wollen sie, dass sie an den Gesprächen beteiligt ist.

Was müsste noch passieren, um eine solche Konferenz möglich zu machen?

Am Ende einer solchen Konferenz soll ja die Unterschrift unter ein Abkommen stehen. Alle Einzelheiten dessen, was für die Zukunft Afghanistans beraten wird, müssten dann bereits ausgearbeitet sein: der Abzug der internationalen Truppen, Garantien, dass die Terrorgruppen nicht zurückkehren, der künftige Staatsaufbau, eine neue Verfassung. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.

Welche Rolle spielen heute die Warlords, die ja von westlichen Staaten, auch von Deutschland, als Verbündete im Kampf gegen die Taliban behandelt wurden?

Die Warlords kontrollieren große Teile des politischen Systems und der Wirtschaft und verfügen immer noch über viele Bewaffnete, die Milizen. Sie haben sich nicht von der Idee verabschiedet, dass Waffengewalt zur Erringung der politischen Macht beitragen kann. Weil viele von ihnen islamische Konservative oder Islamisten sind, sind sie Teil des Problems. Beim Thema Frauenrechte unterscheiden sie sich nicht sehr von den Taliban; sie könnten nach einem Friedensschluss mit den Taliban eine Sachkoalition eingehen. Viele Menschen in Afghanistan befürchten deshalb, dass dann die Rechte von Frauen, von Minderheiten und individuelle demokratische Rechte auf der Strecke bleiben könnten. Die Taliban verlangen ja, dass die Verfassung überarbeitet wird. Sie wollen ein Schura-System, in dem Islamgelehrte und die Ältesten bestimmen.

Nehmen Deutschland und andere Staaten diese Sorgen ernst genug?

Sie sollten sich dafür einsetzen, die Freiheitsrechte in Afghanistan zu bewahren. Es darf nicht sein, dass die Amerikaner den Taliban zu große Zugeständnisse machen, um ihre Truppen abziehen zu können. Unsere Regierungen müssten viel mehr mit der Zivilgesellschaft reden und nicht nur mit den Eliten, die sich in einer korrupten Regierungsführung abwechseln.

Thomas Ruttig ist einer der Gründer und Leiter des Afghanistan Analysts Network. In Kabul war er zuvor für die UN-Mission, für die Europäische Union sowie die deutsche Botschaft tätig.

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