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Politik: Tanja zieht in den Krieg

MOSKAU .Wie eine Abenteurerin sieht Tanja, 42, nicht aus.

MOSKAU .Wie eine Abenteurerin sieht Tanja, 42, nicht aus.Ihre fast mädchenhafte Schlankheit, das leicht ergraute, streng in der Mitte gescheitelte Haar und der abgetragene dunkelblaue Übergangsmantel, unter dem ein schwarzweiß gestreiftes Kleid hervorlugt, lassen eher auf Lehrerin schließen.Nur die blauweißgewürfelte Reisetasche aus Wachstuch paßt nicht recht zu dem braven Outfit.Mit derartigen Taschenmonstern machen sich gewöhnlich Shoptouristinnen auf den Weg.Auch an diesem Abend stellen sie den Löwenanteil der Fahrgäste im Zug vom Kiewer Bahnhof in Moskau nach Tschernowzy - einer Stadt im Süden der Ukraine, hart an der Grenze zu Rumänien.Doch in Tanjas Tasche stapeln sich statt Billig-T-Shirts oder Turnschuhen mit getürktem Markensymbol Verbandszeug und Medikamente.Einzige persönliche Habseligkeiten: eine Bibel und ein paar Taschentücher, frisch gebügelt und gefaltet.Das erste davon ist schon tränennaß und zerknüllt, als der Zug um 21 Uhr 45 aus dem Bahnhof rollt, denn Tanja zieht in den Krieg.

Ehemann Oleg und die drei Kinder - der neunzehnjährige Wasja, die zwölfjährige Nina und ihre ein Jahr jüngere Schwester Sweta - laufen neben Tanjas Waggon her, bis der Bahnsteig endet.Dann erzählt Oleg mit steinernem Gesicht Tanjas Geschichte: 1986, nach der Tschernobyl-Katastrophe hat sie sich sofort für den Einsatz in den strahlenvereuchten Gebieten Weißrußlands gemeldet.Dafür bekam sie ihre erste Tapferkeitsauszeichnung.Die zweite - den Shukow-Orden - erhielt sie im Herbst 1993 vom Bund der Offiziere.Tanja hatte bei Jelzins Panzerattacke auf das eigene Parlament Verwundete aus dem Kugelhagel auf dem Platz vor dem Moskauer Weißen Haus geschleppt und verbunden.Ein dritter ist ihr nach dem Einsatz in Jugoslawien so gut wie sicher.Wenn sie überlebt.

Noch weiß Tanja nicht, was Krieg wirklich ist.Bei Berichten über das Massaker in Tschetschenien hat sie stets auf einen anderen Kanal geschaltet; Olegs Erlebnisse während des dreijährigen Militärdienstes in Afghanistan waren in der Familie Tabuthema."Ich habe versucht, sie zurückzuhalten", sagt Oleg.Aber es hatte keinen Sinn.Ich gehe in die vorderste Frontlinie hat sie gesagt.Da gehöre ich hin, denn da waren wir Kommunistinnen immer."

Gut eine Woche nach dem Beginn der NATO-Bombardements gegen Jugoslawien ist der kalte Frieden mit dem Westen in Rußland zu einem heißen Krieg der Nerven eskaliert.Das Kommando zum halbwegs geordneten Umgang mit dem NATO-Krieg kam erst am letzten Dienstag, vom einsamen Boris Jelzin.Rußland werde sich nicht in einen Krieg hineinziehen lassen, Emotionen seinen schädlich, rationale Entscheidungen seien gefragt.

Doch Links- wie Rechtsextreme wehren sich dagegen nach Kräften.In Schirinowskis Parteizentrale arbeitet bereits ein Stab, der Kriegsfreiwillige für Jugoslawien rekrutiert.Als oberster Trommelwerber hat sich mit Viktor Filatow ein aktiver General der russischen Armee angedient.Undercover-Journalisten, die Interesse für den Einsatz auf dem Balkan heuchelten, berichten von extrem niedrigen Hürden für potentielle Kriegsteilnehmer: Die Anwärter müssen mindestens zwanzig sein, einen gültigen Paß und mehrere Fotos zwecks Visaerteilung mitbringen.Militärische Grundkenntnisse, gesundheitliche Eignung oder Vorstrafen interessieren nicht.Filatow nehme jeden, sagt Reporter Dmitrij, dessen dicke Brillengläser sogar vor der gierigen russischen Musterungskommission Gnade fanden.

Als Motiv müssen Zugehörigkeit zum gleichen orthodoxen Bekenntnis und erprobte Waffenbrüderschaft im Kampf um die Befreiung des Balkans herhalten.Den von traumatischen Erlebnissen aus der Bahn geworfenen Afghanistan- und Tschetschenienkämpfern läßt sich die Mär vom Glaubenskrieg leicht unterjubeln: Auf Seiten der Kosovo-Albaner kämpfen angeblich tschetschenische Freischärler.Bislang haben die Aufrufe noch keinen Massensog bewirkt.Noch ist mit slawischer Bruderliebe kein Geld zu verdienen.Laut Umfrage in Gebietshauptstädten Zentralrußlands wären jedoch 60 Prozent der Männer zwischen 20 und 30 bereit zum Einsatz als bezahlte Söldner.

Am letzen Wochenende waren bereits 118 Freiwillige aus den GUS-Staaten in Jugoslawien eingetroffen.Darunter ehemalige Jagdflieger, Bomberpiloten, Artilleristen sowie Offiziere, die in den für Bürgerkriegseinsätze zuständigen Sondereinheiten des Innenministeriums gedient und daher Grundausbildung in Nahkampf haben.Das berichtet Alexander Zhilin, Militärexperte der Wochenzeitung "Moskwoskije nowosti" und frisch aus Belgrad zurückgekehrt.

Ausgerüstet werden sie mit Kriegstechnik, die polnische Waffenschieber besorgen: Neben Maschinengewehren auch verschiedene Typen von Granatwerfern und Boden-Luft-Raketen.Zhilins Frage, wie sich die Verletzung von UNO-Sanktionen mit Polens Neumitgliedschaft in der NATO vertrage, brachte sie nicht in Verlegenheit: "Zuerst kommen die Zlotys, dann die Heimat." Oberstleutnant der Reserve Jurij Malkow, den Zhilin interviewte, sagte, eigentlich solle er die Jugoslawen für den Luftkampf trainieren, doch am liebsten würde er selbst ein paar Amis vom Himmel zu holen."Keiner der Freiwilligen hat zu Hause ein festes Einkommen, die meisten sind im Zivilleben gescheitert, ihre Firma ist kaputtgegangen, Jagdflieger Malkow, der sich eine Existenz als Landwirt aufbauen wollte, haben sie Haus und Stall angesteckt", erzählt Zhilin.

Pjotr Solontschuk aus der Ukraine, 42 und vor seiner Entlassung Offizier der Militärabwehr tätig, ist schon zufrieden mit regelmäßiger Verpflegung.Zhilin: "Jeden Tag kriegen sie Borschtsch-Suppe mit viel Fleisch drin." Solontschuk war zum letzten Mal vor zwei Jahren richtig satt.

Mit Solontschuk, sagt Zhilin, habe er eine ganze Nacht geredet.Das Ergebnis muß er erst verdauen: "Solontschuk meint, bald beginnt der Bodenkrieg und dann werden hier soviel Freiwillige herumlaufen, daß wir Bataillone, möglicherweise sogar Regimenter aufstellen können.Die aber werden den Krieg in die Metropolen der NATO-Länder tragen: Mit Sprengstoffanschlägen."

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