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2010

© mauritius images

Politik: Tanz um den Vulkan

Ein Comedian als Bürgermeister? Einen „Guten-Tag-Tag“ für alle? Die Kreativen weisen Island den Weg aus der Krise

Fast ein bisschen zu klein wirkt der altehrwürdige Library Room im Reykjaviker Kulturhaus an diesem Abend. Zu klein für das, was da alles präsentiert werden soll. Unter der eleganten weißen Kassettendecke drängen sich Künstler und Gäste an die Tische zwischen alten Ausgaben der Sagas, Gedichtbände und dem Werk des Literaturnobelpreisträgers Halldor Laxness. Sie sind gekommen, um zu zeigen, wo Islands Stärken liegen: Schriftsteller, Designer, Maler, Filmemacher, Musiker. Sie kennen sich alle, und nicht selten arbeiten sie auch zusammen. Aber nun haben sie ein wirklich großes gemeinsames Projekt: Sie wollen ihr Land zurückerobern.

Die Kreativen verstehen sich als Botschafter des neuen Islands, das nicht mehr mit Banken, sondern mit Kultur auf sich aufmerksam macht. In der Hauptstadt Reykjavik ist das schon gelungen: Seit Mai dieses Jahres regiert hier als Bürgermeister der Comedian Jon Gnarr – und mit ihm noch andere Künstler.

Island im Jahr drei nach Beginn der Finanzkrise. Aus dem einstigen Vorzeigeland, das die OECD noch im Spätsommer 2008 zu den modernsten und zukunftsfähigsten Regionen der Welt zählte, ist wieder eine kleine, unbedeutende Insel im stürmischen Nordatlantik geworden, deren Bewohner inmitten von Gletschern und Vulkanen ständig an der Grenze zwischen Zivilisation und Natur leben. Es ist Herbst, noch sind die Tage lang und das Licht golden. Aber der nahe Winter schickt schon seine eisigen Winde voraus. Auf den Straßen der Hauptstadt mehren sich die traditionellen Strickpullover, in den schicken Boutiquen auf der Austerstraeti, Bankstraeti und Laugavegur, den wichtigsten Einkaufsstraßen im Zentrum der Stadt, preisen isländische Designer wie das In-Schuhlabel „Kron by KronKron“ ihre neueste Kollektion an. Die Outdoorfirma „66° North“, einst vor allem der Ausstatter von Eismeerfischern, ist längst zur Kultmarke aufgestiegen.

Das Land ist auf der Suche nach seiner Identität, seinen Stärken und Werten, die verloren gegangen sind, als Geld im Überfluss vorhanden zu sein und alles möglich schien. Von 2004 bis 2007 erlebte die Insel einen unbeschreiblichen Wirtschaftsboom: Frisch privatisierte, weitgehend unregulierte Banken blähten den Finanzsektor auf. Der billige Zugang zu Krediten löste einen wahren Konsum- und Investmentrausch im Land aus: Ein Leben wie im Rausch, mit teuren Autos, neuen Häusern und Luxuswohnungen. Und eine gefährliche Entwicklung: Die Gesamtverschuldung von Staat und Privatleuten stieg auf dem Höhepunkt des Booms auf mehr als 600 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Als das Kartenhaus im Oktober 2008 von einem Tag auf den anderen in sich zusammenfiel und die drei größten Banken des Landes buchstäblich über Nacht verstaatlicht werden mussten, fiel der Kurs der isländischen Krone ins Bodenlose und die meist in ausländischen Währungen abgeschlossenen Kredite wurden für Unternehmer und Privatleute zur Schuldenfalle. Nur mit Notkrediten durch den Internationalen Währungsfonds konnte ein Staatsbankrott abgewendet werden.

Islands Schriftsteller wurden von den Dammbrüchen der vergangenen Jahre regelrecht überrollt. „Was sollen wir noch schreiben, wenn die Wirklichkeit so absurd ist wie derzeit?“, fragt Andri Snaer Magnason bei seinem Vortrag im Reykjaviker Kulturhaus. 1996 hat der Autor und Filmemacher in „Bonus Poetry“ der größten Supermarktkette Islands ein Denkmal gesetzt. Jon Asgeir Johannesson, der Bonus mit seinem Vater aufgebaut hatte, wurde in wenigen Jahren zum Jetset-Milliardär, seine Investmentfirma Baugur zum größten Unternehmen des Landes – exemplarisch für das Boomland Island.

Statistisch finden sich unter den zehn größten Pleiten weltweit drei isländische Banken – wie absurd muss der Traum des kleinen Landes gewesen sein, ein weltweit führender Finanzplatz zu werden. Und dann auch noch der Eyjafjallajökull! Nur zwei Tage nach dem Erscheinen des Untersuchungsberichts zum Bankencrash hat der Ausbruch des Vulkans erneut alle Aufmerksamkeit auf Island gezogen. Heute fällt Magnason zu alldem nur noch Ironisches ein. „Das passierte alles in wenigen Tagen – ich aber brauche zwei Jahre, um ein Buch zu verfassen!“ Island benötige nun definitiv viele zusätzliche Schriftsteller, um das ganze Rohmaterial zu verarbeiten ...

Die 320 000 Isländer sind stolz auf ihre literarische Tradition, die sie bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen können. „Pro 1000 Einwohner werden bei uns doppelt so viele Bücher verlegt wie in den anderen nordischen Ländern“, sagt der Schriftsteller Halldor Gudmundsson („Wir sind alle Isländer“), der den Gastauftritt des Landes bei der Frankfurter Buchmesse 2011 organisiert. Für die Isländer ist es eine Riesenchance. Eine große Rolle werden hier die neu übersetzten Sagas spielen, Geschichten von Elfen, Trollen und Geistern, die auch heute noch mitmischen, wenn an der Grenze zwischen Eurasischer und Nordamerikanischer Kontinentalplatte mal wieder die Erdkruste aufreißt oder ein Vulkan grollt und Lava spuckt. Wer durch die isländische Mondlandschaft reist, wo das Nordlicht die Nacht erhellt und das kochend heiße Wasser der Geysire blubbert und zischt, hört viele magische Geschichten.

Magisch könnte man auch den Aufstieg von Jon Gnarr zum Bürgermeister von Reykjavik Ende Mai nennen. Dabei profitiert der 43-Jährige – einst Taxifahrer, Mitglied einer Punk-Band und Pfleger, inzwischen einer der beliebtesten Kabarettisten – davon, dass in Island jedes Vertrauen erschüttert ist. Ein ganzes Land hat sich verspekuliert, und die Politik sah dabei zu. Also wählen die 120 000 Reykjaviker einen Comedian samt seiner Spaßpartei an die Spitze ihrer Stadt.

„Für meine Bewegung gibt es noch keinen Namen“, sagt Jon Gnarr, der eigentlich Jon Gunnar Kristinsson heißt. Oder auch Johnny Punk. Vielleicht werde man sie irgendwann einmal Neo-Anarchismus nennen. Anarchismus als Antwort auf eine der größten Krisen des Landes? Bis zu seiner Wahl verfügte Gnarr über keinerlei politische Erfahrung und sagt selbst über sich, er sei „noch nicht trocken hinter den Ohren“. Im Januar gründete er mit ein paar Künstlerfreunden die „Beste Partei“ und zog im Mai mit überraschenden 34,7 Prozent ins Rathaus von Reykjavik ein. Den kommunalpolitischen Alltag bewältige er nun, sagt er, indem er delegiere, an die, die Bescheid wissen. Und vor allem indem er anderen vertraue. Bei schwierigen oder einfach nur konkreten Fragen zu Finanzen verweist er auf seine Mitarbeiter. Zahlen und „langweilige“ Fakten sind seine Sache nicht. Sein Motto stattdessen: Gemeinsam gegen die Krise lachen. Dabei nimmt er sich selbst nicht aus: Im August führte der vierfache Vater das Homosexuellen-Festival in seiner Stadt an, im quietschbunten Blumenkleid, mit blonder Perücke und viel Make-up. Der Bürgermeister selbst, so gab er zu Protokoll, habe nicht erscheinen können. „Das haben wir davon, dass wir einen Clown gewählt haben.“

Für viele Isländer hat diese Art der Traumabewältigung eine befreiende Wirkung. Warum nicht lachen, wenn alles so trist erscheint. Und eigentlich treibt Gnarr ja nur die Sprüche und Versprechen vieler Politiker so lange auf die Spitze, bis auch dem Letzten klar wird, wie inhaltsleer die Sätze sind: Im Wahlkampf hat er ein „Disneyland für alle“, ein drogenfreies Parlament in zehn Jahren und „offene statt heimliche Korruption“ versprochen – und gleichzeitig angekündigt, alle Versprechen zu brechen.

Doch auch er kann die Krise nicht nur weglachen: Kaum im Amt, musste er die Strompreise erhöhen, das städtische Budget ist knapper geworden, darüber allerdings spricht er nicht so gerne. Er selbst fährt ein kleines rotes Energiesparauto und will den öffentlichen Nahverkehr ausbauen. Um aber nicht ernst und langweilig zu werden, mache er ansonsten vor allem „fröhliche, überraschende Sachen“, die kein oder zumindest wenig Geld kosten. Einen „Guten-Tag-Tag“ am 1. September zum Beispiel, an dem sich alle besonders freundlich einen „Guten Tag“ wünschen sollten. „Ein Erfolg!“ Als Nächstes plant er einen „Guten-Abend- Abend“. Und er will die Kultur, die Künstler in der Stadt stärker fördern. Ach ja, und die Handtücher in den Schwimmbädern seien inzwischen kostenlos. Kabarett wird zu Politik, aber möglicherweise war es in Island längst genau andersherum. Bei allem Klamauk: Die Mehrheit der Hauptstädter ist von ihrer Arbeit überzeugt.

Hinter den satirischen Sprüchen und Taten des Bürgermeisters stehen allerdings auch ernst zu nehmende soziale Veränderungen. So war es in der isländischen Gesellschaft, in der sich fast jeder aus der Schule, von der Arbeit oder über die Familie kennt, vor der Krise weitaus verbreiteter, sich stets freundlich zu grüßen. Nachbarschaftshilfe war elementar, aber auch Vetternwirtschaft gang und gäbe – eines der grundlegenden Probleme des Landes. Die immer wieder von Vulkanausbrüchen, Stürmen und Erdbeben heimgesuchten Insulaner sind seit jeher aufeinander angewiesen, die Natur um sie herum ist rau und gnadenlos. 31 aktive Vulkane gibt es auf Island, alle fünf Jahre bricht statistisch gesehen einer aus. Die Eruption des Eyjafjallajökull im März hat nicht nur den gesamten Flugverkehr in Europa für sieben Tage lahmgelegt, sondern auch viele Anwohner schwer getroffen. Aus der Krisenzone am Fuße des Vulkans mussten Anfang April hunderte Menschen evakuiert werden, als es tagsüber auf einmal stockdunkel wurde und es tonnenweise Asche regnete.

Auch die Bankenpleite hat vor allem die Isländer selbst getroffen. Die Arbeitslosigkeit ist zeitweise auf für hiesige Verhältnisse erschütternde acht Prozent angestiegen, und in diesen Wochen fürchten viele, ihr Haus oder ihre Wohnung zu verlieren, weil sie ihren Kredit nicht mehr bezahlen können. Die Wut darüber, dass kaum ein Verantwortlicher dafür belangt wurde, trieb die eigentlich so friedlichen Isländer Anfang 2009 mit Kochtöpfen auf die Straße und vors Parlament, um ihre Regierung zu stürzen und Neuwahlen zu fordern.

Ex-Premier Geir Haarde soll nun zwar wegen Verfehlungen vor der Finanzkrise vor einen Sondergerichtshof gestellt werden, ein einzigartiger Vorgang. Aber das reicht dem wütenden Volk nicht, erneut demonstrierten Tausende Anfang Oktober mit allerlei Küchenutensilien dagegen, dass nur Haarde zur Verantwortung gezogen werden soll. Eine parlamentarische Untersuchungskommission hatte gegen drei weitere Minister Verfahren wegen „fahrlässigen“ Handelns empfohlen. Außerdem blieben die in Familienclans organisierten Finanzjongleure und der langjährige Ministerpräsident David Oddsson, die nach Ansicht vieler die Hauptverantwortlichen für die Krise sind, weitgehend unbehelligt. Regierungschefin Johanna Sigurdardottir und ihre Minister wurden für diese Entscheidung mit Eiern beworfen. Topfschlagen für die Gerechtigkeit: Nordische Zurückhaltung war einmal.

Wenn nicht demonstriert wird, ist auf den Straßen der Hauptstadt von den Verwerfungen allerdings wenig zu sehen. Die Autos sind immer noch überwiegend groß, teuer und geländetauglich, vielleicht finden sich ein paar Porsche Cayenne weniger als früher darunter. Die gemütlichen Restaurants und Kneipen wirken gut besucht. Ein paar Baukräne stehen derzeit zwar auch an Werktagen still, aber sonst?

Am auffälligsten ist noch das halb fertiggestellte „Harpa Concert Hall and Conference Center“ unten am Hafen, dessen spektakuläre Fassade der Architekt Henning Larsen zusammen mit dem Künstler Olafur Eliasson entworfen hat. An dem an die Hamburger Elbphilharmonie erinnernden gläsernen Konzerthaus ruhen die Arbeiten gerade, die Bauunternehmer sind bankrott. Doch auch das soll sich wieder ändern, Stadt und Land haben sich bereit erklärt, den auf 17 Milliarden Kronen (112 Millionen Euro) veranschlagten Bau zu Ende zu bringen. „Jemand musste ja die Verantwortung übernehmen“, rechtfertigt Jon Gnarr das Eingreifen der öffentlichen Hand. 2,7 Millionen Euro (für insgesamt 35 Jahre) entfallen dabei pro Jahr auf die Hauptstadt.

„Es war so falsch, dass wir vor allem ein Finanzplatz sein wollten, denn die Isländer waren niemals gut im Umgang mit Geld“, sagt Gnarr. Jetzt wolle man sich wieder auf die vielfältige Kultur Islands konzentrieren, denn die Insel sei weltweit für ihre Kunst bekannt. Und, natürlich, „auf gute Laune“.

Krisenzeiten sind in der Regel gute Zeiten für die Kunst. Die Auseinandersetzung mit Brüchen und Verwerfungen inspiriert. So wurde nur fünf Monate nach dem Bankenkollaps eine jährliche Design-Messe in Reykjavik auf den Weg gebracht. Mehr als 100 Designer und Architekten nahmen die Chance wahr, sich auf den Straßen der Hauptstadt zu präsentieren. „Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Produkt der Krise“, sagt Halla Helgadottir, die Direktorin des „Iceland Design Center“. Und auch die Musikindustrie hat keinen Grund zur Klage: Seit den Erfolgen von Björk und The Sugarcubes hat isländischer Sound international einen Namen. Die „Iceland Music Export“ kümmert sich inzwischen intensiv darum, dass die vielen Bands, Musiker und Songwriter der Insel ähnlich bekannt werden.

Erstaunlich schnell scheint sich das nur knapp einer Katastrophe entronnene Land wieder zu berappeln, und das nicht nur atmosphärisch. Glaubt man dem grünen Finanzminister Steingrimur Sigfusson – einem ehemaligen Marxisten –, so könnte die Krise bereits in drei, vier Jahren überwunden sein.

Bis dahin hilft den Insulanern vor allem ihr Galgenhumor. „Wir Künstler besitzen ja ohnehin nie viel“, sagt Andri Snaer Magnason. „Von daher haben wir auch nicht viel zu verlieren.“ Witze haben derzeit Hochkonjunktur, wie zum Beispiel der über den Ausbruch des Eyjafjallajökull: Als die isländische Wirtschaft starb, war ihr letzter Wille, dass ihre Asche über ganz Europa verstreut würde.

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