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Der Choleriker Kinski wird von vielen als Genie verehrt. Seine Tochter Pola rüttelt mit ihrem Buch an diesem Bild.

© dpa

Tatort Familie: Das Zeitalter der Despoten ist noch nicht Geschichte

Die Offenheit von Pola Kinski und Sigmar Gabriel kann anderen Opfern helfen, mit ihrer Vergangenheit zurecht zu kommen.

Kindheit ist das Paradies. Kindheit ist die Hölle. Wenn Politiker oder Prominente von früher erzählen, dann geschieht das oft in solch dramatischen Zuspitzungen. Der geschlagene Sohn, die missbrauchte Tochter, diese traurigen, tragischen Bilder haben gerade wieder Konjunktur. Es sind Bilder, die es voneinander zu unterscheiden gilt: Die vom cholerischen Schauspieler-Vater vergewaltigte Pola Kinski erlebte ein anderes, mutmaßlich weit schlimmeres Martyrium als der vom Nazi-Vater eingesperrte, gezüchtigte, seelisch misshandelte Sigmar Gabriel.

Und doch ist beiden Biografien etwas gemeinsam: Sie erinnern daran, dass die Zeit, in der viele Kinder Angst vor ihren Eltern haben mussten – zumal vor der Autorität despotischer Täter-Väter –, nicht in ferner Vergangenheit liegt. Demütigungen, drakonische Strafen, grenzenlose Ohnmacht, all das gehörte noch in der Nachkriegsrepublik häufig zum kindlichen Alltag, in Ost wie West. In Deutschland wurde die Prügelstrafe vor gerade mal 13 Jahren endgültig verboten.

Das körperliche und seelische Kindeswohl unter den Schutz des Gesetzes zu stellen, ist eine junge zivilisatorische Errungenschaft. Die Wunden sind nicht vernarbt, die Schweigekartelle noch nicht lange gebrochen. Erst vor drei Jahren begann mit der Debatte um die Missbrauchsskandale am Berliner Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule eine breite öffentliche Selbstverständigung über Erziehung in der Nachkriegszeit. Missbrauch in der Katholischen Kirche und bei den Reformpädagogen, die runden Heimkinder-Tische, der Streit um die Beschneidung – die Diskussion um Gewalt gegen Kinder und die Fürsorgepflicht der Erwachsenen reißt nicht ab.

In den Fokus rücken dabei die Institutionen, religiöse und staatliche Einrichtungen. Hier kann aufgearbeitet, entschädigt, die Würde der Opfer ansatzweise rehabilitiert werden. Das hat die Gesellschaft auch für den Tatort Familie sensibilisiert. Ob Hort oder Horrorstätte, geprügelt wurde in den 50er, 60er Jahren nicht nur in Heimen und Schulen. Wobei der Staat hier keine Wiedergutmachung leisten kann, soweit Vergehen nicht strafbar und Verbrechen verjährt sind. Umso wichtiger ist ein gesellschaftliches Klima, das wenigstens das Erzählen erleichtert. Sigmar Gabriel unter PR-Strategie-Verdacht zu stellen, weil er an die Öffentlichkeit geht, trägt nicht dazu bei. Es schreckt im Gegenteil andere ab, ihr Schweigen zu brechen und sich dadurch ein Stück eigene Biografie, ein Stück Würde zurückzuerobern.

Der private Schrecken wird zu Geschichte

Sigmar Gabriel, Jahrgang 1959, gehört zu einer Zwischengeneration. Er ist kein 68er und kein 89er. Sein Vater war nicht nur ein Haustyrann, sondern auch ein glühender Gesinnungsnazi; ein verspäteter Nazi mit einem verspäteten Vater-Sohn- Konflikt. So erhellt der Fall Gabriel einen spezifisch deutschen Zusammenhang: die Aufarbeitung des Holocaust als Generationenfehde, die verdrängten NS-Kontinuitäten nach dem Krieg und eine „Pädagogik“, die Zucht und Strafe mit Fördern und Fordern verwechselte. Mein Vater, der Nazi: Der private Schrecken historisiert sich allmählich, die meisten dieser Eltern sind tot. Der Filmemacher Oskar Roehler, ebenfalls 1959 geboren, arbeitet sich in seinem autobiografischen Roman „Herkunft“ und demnächst im Kinofilm „Die Quellen des Lebens“ auch an seinem herrischen Vater ab – der war aber 68er.

Jahrgänge sind bezeichnend, Biografien bleiben individuell. Sie prägen Haltungen, Mentalitäten, Charaktere, sind von Zufällen gesteuert, von tragischen wie glücklichen Umständen. Eine Zeltlagerfreizeit, die erste Liebe, das kann die Wende bringen, auch das verrät Gabriels Geschichte. Man hält inne: Wie wurde ich zu dem, der ich bin? Und man begreift: Der Mensch ist nicht das Produkt seiner Herkunft, nicht nur. Unglaublich, mit welcher Willenskraft und Zähigkeit es selbst noch so versehrten Opfern mitunter gelingt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Diesen Entronnenen gebührt größter Respekt.

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