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Terror in Nigeria: Der Nährboden Gottes

Nigeria ist ein zerrissenes Land. Trotz des Ölreichtums herrscht bittere Armut. Das macht es religiösen Fundamentalisten leicht, ihre Lehren zu verbreiten. Mit Anschlägen sät die islamistische Terrorsekte Boko Haram weitere Zwietracht

Auf dem Tenniscourt vergisst der Priester die Toten. Den verbrannten Körper, der ohne Kopf vor seiner Kirche liegt, den leblosen Jungen an der Einfahrtsschranke, umringt von Schreienden. Father Peter geht vier Mal in der Woche auf den Sandplatz, 120 Kilo, Diabetiker, starke Vorhand. „Sport hilft, um damit klarzukommen“, sagt er, und als hätte er etwas vergessen, fügt er hinzu: „und mein Glaube.“

Es ist Sonntagfrüh, die Messe in Jos gerade vorbei. Der Priester tritt in makellos weißer Soutane aus dem Schatten der St.-Finbarr’s-Kirche, die Sonne ist stechend. Schweißperlen bilden sich auf dem fast kahl rasierten Schädel, kullern in die Nackenfalten.

Hier in der Millionenstadt in der Grenzregion zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden Nigerias sind die Gottesdienste immer gut besucht. Father Peter verabschiedet noch ein Brautpaar mit Handschlag und bleibt vor einem rostigen Gerippe stehen: einem Haufen Blech, einem Steuer, dazwischen Steine und ein Damenschuh, die eine grausame Geschichte haben.

Sie haben all das mit Absicht liegen lassen, die ausgebrannten Reste eines silbernen Opel Vectra. Der Wagen hat großes Unglück über die katholische Gemeinde gebracht.

Im Kofferraum des Autos befand sich ein mit Sprengstoff gefüllter Gaszylinder, der vor knapp einem Jahr, am 11. März 2012, vor der Kirche explodierte. Zehn Menschen riss die Bombe in den Tod, Gottesdienstbesucher, Wachpersonal und die vier Mörder, einer davon war als Frau verkleidet, um unverdächtiger zu erscheinen. Sie verbrannten. Ihre lodernden Körper wurden von aufgebrachten Jugendlichen mit Steinen beworfen. So groß war der Hass, so unbändig die Wut.

„Da irgendwo“, der Priester deutet auf das verbogene Steuer, „ist das Vorhängeschloss, mit dem der Fahrer angekettet war.“ Father Peter beugt sich tief über das Wrack. „Keiner hatte eine Chance – weder die noch wir.“

Es war ein Anschlag der Terrorgruppe Boko Haram, der Name bedeutet so viel wie „Westliche Erziehung ist Sünde“. Ihre Mitglieder verstehen sich als Diener des Propheten. Allein im vergangenen Jahr sollen sie 800 Menschen getötet haben.

Es ist ein unsichtbarer Feind, sagen sie hier über die Sekte, die als kleine Gruppe radikaler Salafisten mit einer Koranschule begonnen hat und ein großes Ziel verfolgt: die Gründung eines islamischen Gottesstaates im Norden Nigerias. Als ihr Anführer, der eloquente Prediger Mohammed Yusuf, 2009 in Polizeigewahrsam erschossen wurde, fing das Morden erst richtig an. Fast jede Woche attackiert die Sekte oder eine ihrer Abspaltungen Polizeistationen, Moscheen und Kirchen. Es werden Ausländer entführt, und eben erst entkam der Emir von Kano, der zweitgrößten Stadt in Nigeria, knapp einem Anschlag.

"Ich war sie, und sie war ich", sagt der Witwer.

Boko Haram hat den Staatsapparat durchsetzt, sagt Präsident Goodluck Jonathan und sieht Vernetzungen mit Al Qaida in Mali und anderen Dschihadisten in Nordafrika. Der christliche Regierungschef aus dem Nigerdelta, der im Norden nicht gerade beliebt ist, rüstet sein Land gewaltig auf. Rund ein Viertel der offiziellen Staatsausgaben fließen in den Sicherheitsapparat. Überall sind Polizisten und Soldaten im Einsatz, Checkpoints säumen die Straßen. Sie können die Terroristen dennoch nicht stoppen.

„Liebet eure Nächsten – bittet für die, die euch verfolgen“, predigte Father Peter nach dem Attentat.

Botschaften wie diese, Botschaften des Verzeihens, kann der Witwer Dominic Dung nicht mehr hören. Als der Gaszylinder in die Luft ging, starb seine geliebte Rose, eine fleißige Kirchgängerin, 55 Jahre alt. Sein Glaube wich darauf dem Zweifel, sein Gottvertrauen der Wut, er spricht mit keinem seiner früheren muslimischen Freunde mehr und geht kaum noch auf die Straße.

Gleich hinter seinem Haus liegt sie begraben, Dominic Dung hat eine Okrapflanze auf den Erdhügel gesetzt. Von den tiefgrünen Schoten hat er eine Suppe gekocht und gegessen – die mochte auch seine Rose so gerne. „Ich war sie, und sie war ich“, sagt der 68-Jährige. Seine Frau auf dem öffentlichen Friedhof zu beerdigen, brachte er nicht über sich. Er will so nah wie möglich bei ihr sein. Das ruhige Gesicht verzerrt sich, wenn er über Boko Haram spricht. Über Nacht seien die Flugblätter in den Straßen des Viertels aufgetaucht. Sie würden wiederkommen, schrieben die Milizen, sie würden den Regierungssitz in Jos angreifen, die Radiostation nebenan, die lauter Fehlinformationen verbreite über die Gotteskrieger.

„Es kann jederzeit wieder passieren“, sagt der Witwer. Erholsame Nächte, in denen er durchschläft, hat er schon lange nicht mehr, er wartet ständig auf den nächsten großen Knall.

Die Angst, auf die Todesliste von Boko Haram gesetzt zu werden, lässt viele verstummen. Wer redet, stirbt, wissen die Nigerianer. Nur wenige trauen sich, doch etwas zu sagen. Zwei von ihnen, ein Ex-Polizist und ein Geschäftsmann, sind zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort – sie sitzen auf Plastikstühlen unter einem Baum, von dem es honiggelbe Blüten regnet. Hinter ihnen gackern Hühner. In den Dörfern rundherum kann jeder von Toten erzählen, die Witwen der erschossenen Polizisten, die Bauernfamilien, die nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr wie früher draußen sitzen. In ihren Rundhütten aus Lehm fühlen sie sich sicherer.

Keine Fotos, keine Namen, das ist die Vereinbarung. „Schreiben Sie nichts, was sie uns finden lässt“, fleht der Geschäftsmann.

Aber so viel kann man sagen, dass es nicht weit ist bis zu jenem Ort, wo alles begann, bis zur Stadt Maiduguri im Nordosten Nigerias, wo die Salafisten zu den Waffen griffen und von wo aus die Gewalt auf das ganze Land übersprang.

„Das sind Teufel, das sind Bestien“, schimpft der Geschäftsmann, seine Augen so klein wie Erdnüsse, die Finger unruhig tastend. „Die kamen kurz nach Mitternacht in unser katholisches Viertel und schlugen mit Äxten auf den Nachbarn und seine drei Jungs ein.“ Nur die Frauen hätten sie verschont. Die Angreifer zogen von Tür zu Tür. Sie verschanzten sich auch vor dem Anwesen des Geschäftsmanns. Immerhin, er war bewaffnet.

Es war ein ungleicher Kampf, acht Terroristen mit Kalaschnikows, alle unmaskiert und blutjung, gegen einen alten Mann mit einem Gewehr. Das Gefecht, von dem er glaubte, es nicht zu überleben, zog sich mehr als drei Stunden hin. Das letzte Gebet hatten er und seine Frau längst gesprochen, sich noch einmal innigst umarmt, da, gegen drei Uhr, kam endlich die alarmierte Polizei. Die Angreifer flohen.

Alles ist verquickt mit Religion.

Sein Haus ist wertlos, seine Nachbarschaft hat sich aufgelöst, alle sind weggezogen. Der Geschäftsmann selbst ist bei Verwandten untergekommen. „Wenn du die anzeigst, ist es vorbei“, sagt er, „die Täter leben mitten in der Gesellschaft, und keiner hat den Mut, gegen sie vorzugehen.“ Der Ex-Polizist nickt und schaut bedrückt auf seine Lederschlappen. „Wenn sie doch mal verhaftet werden, gehen sie zur Hintertür des Gefängnisses wieder raus.“ Mit Geld sei alles möglich in Nigeria, Straffreiheit ließe sich jederzeit kaufen.

Der Terror von Boko Haram trifft die mit 170 Millionen Menschen größte Nation Schwarzafrikas. In der wachsen die religiösen Gemeinden so schnell wie nirgendwo sonst. Im wirtschaftlich unterentwickelten Norden können die Kinder zwar nicht schreiben, aber dafür den Koran auswendig vortragen. Im Süden dagegen gibt es Priesterkandidaten im Überfluss. Die finanzielle Not treibt die Menschen in Kirchen und Moscheen. Denn obwohl der westafrikanische Staat zu den wichtigsten Erdölproduzenten der Welt gehört, leben zwei Drittel der Bürger unter der Armutsgrenze.

Die Unzufriedenheit radikalisiert die Bevölkerung. Das macht es den religiösen Fundamentalisten leichter, ihre Lehren zu verbreiten. So rekrutiert Boko Haram seinen Nachwuchs im Norden, wo zwölf Bundesstaaten die Scharia, das islamische Recht, eingeführt haben. So pilgern Zehntausende in die Gebetsarenen der bekehrungswütigen Prediger im Süden, wo Evangelikale wie der deutsche Obermissionar Reinhard Bonnke, der als der „Mähdrescher Gottes“ bezeichnet wird, bereits die Erlösung im Diesseits versprechen und für ihre Heilsbotschaften die Hand aufhalten.

Alles ist verquickt mit Religion, doch Religion ist nicht alles, in diesem Land, das etwa zur Hälfte aus Muslimen besteht und zu 40 Prozent aus Christen. Zu den wirtschaftlichen Verteilungskämpfen kommen die ethnischen Konflikte im Vielvölkerstaat. Nomadisierende Hirten streiten sich mit sesshaften Bauern, lokale Stämme liegen im Clinch mit zugezogenen Ethnien, immer wieder münden Auseinandersetzungen über Weiderechte und Landbesitz in Gewaltexzesse. Dazu kommen die Machtspiele von Politikern und Demagogen, die die Instabilität für ihre Zwecke nutzen.

Krieg zwischen den Christen und Muslimen ist das, was die Terrormilizen provozieren wollen. Ein Kampf, bei dem es nur einen Gewinner geben soll: die Islamisten. Das ist deren Kalkül. Doch es geht nicht auf dort, wo sich religiöse Führer die Hände reichen und gelegentliche SMS schicken. Wie Bischof Matthew Hassan Kukah, wenn er sich beim Sultan ankündigt. „Muna hanya“, tippt er in sein Nokia-Handy, das ist Hausa und heißt übersetzt: „Wir sind schon unterwegs.“

Der Sultan fordert eine Amnestie für Boko Haram. Der Bischof verurteilt sie. Trotzdem ist der Draht zwischen dem Katholiken und dem obersten Muslim in Sokoto, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates im Nordwesten des Landes, kurz. „Wenn er wegfährt, ruft er mich an und sagt: ,Du hast jetzt das Sagen in der Stadt.’“ Kukah lacht herzlich, gerne auch über seine eigenen Witze, und das tut er oft. In Sokoto weist kein Schild auf seinen Bischofssitz hin, kein Schriftzug, die Adresse besteht aus Mauern, gekrönt von Stacheldraht, bewacht von Sicherheitspersonal und finanziell unterstützt vom deutschen Hilfswerk Missio. „Wenn wir ein Kruzifix aufhängen, denken die, wir kreuzigen Menschen“, scherzt der Bischof.

Die Katholiken in Sokoto sind eine winzige Minderheit, das bekommen sie zu spüren – allen voran von den lokalen Behörden. „Eine unserer Kirchen haben sie mit Bulldozern platt gewalzt“, erzählt er. Das sei unter seinem Vorgänger geschehen. „Die haben Sorge, dass ich das Kalifat abschaffe“, witzelt der 60-Jährige im Ton desjenigen, der wenig Grund zum Lachen hat.

Im Palast des Sultans sind die Formalitäten schnell erledigt, wenn Bischof Kukah vorbeikommt. Die beiden Männer versinken in der Sitzlandschaft, Sultan Muhammad Sa’ad Abubakar nimmt in einem Lederfauteuil Platz, links ein Flachbildschirm, rechts ein Telefon, und vor ihm auf dem Boden hocken seine Mitarbeiter. „Boko Haram nennt sich hier bald jeder Kriminelle, beim Bankräuber angefangen.“ Die Wut des Sultans sitzt tief, die Enttäuschung auch. Seit Monaten fordert er ein Ende des Blutvergießens. Sein Wort hat Gewicht, er ist die Autorität im Norden, aber längst nicht alle hochrangigen Muslime verurteilen Boko Haram so scharf wie er. Selbst unter den Imamen und Gouverneuren hätten sie Unterstützer, heißt es.

Dann will der Bischof das Gelände zeigen, dessentwegen es so viel Ärger gab. Die Fahrt auf der alten Flughafenstraße dauert keine Viertelstunde. Ein Tor schwingt auf, dahinter liegt ein weitläufiger Platz, an dessen Rand Holzbänke stehen, teils von Wellblech überdacht. „Wir beten halb im Freien“, sagt Kukah und fingert nach dem silbernen Kreuz an seiner Halskette. Hier muss nicht erst eine Autobombe explodieren, es gibt Paragrafen, deren Wirkung ebenso verheerend ist. Entweder werden Grundstücke verweigert, oder es gibt keine Baugenehmigungen. „Kirchen sind nicht direkt verboten, aber jeder Neubau wird zerstört“, sagt er und steigt wieder in den Landcruiser.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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