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Ein Land trauert. Wieder ist die Türkei Ziel eines dschihadistischen Anschlags gewesen. Der IS hat die Verantwortung für das jüngste Massaker übernommen.

© Osman Orsal/Reuters

Terrorangriff in Istanbul: Ein Anschlag nach der Moralpredigt

Vor dem Anschlag auf den Nachtklub "Reina" kritisierten auch staatliche Institutionen in der Türkei wochenlang Feiern zu sogenannten "Christenfesten". Eine Analyse

Der autoritär herrschende türkische Staatschef Tayyip Erdogan und seine Regierung sehen sich mit vielen Fragen konfrontiert. Denn trotz eines Großaufgebots der Polizei gelang es einem islamistischen Attentäter im Istanbuler Nachtklub „Reina“ sechs Gewehrmagazine leer zu schießen und dann offenbar mühelos mit einem Taxi zu entkommen.

Neben eklatanten Mängeln im Sicherheitsapparat steht aber auch der konservativ-islamische Diskurs der Führung in Ankara zur Debatte. Dieser richtet sich gegen den säkularen, Erdogan nicht wählenden Teil der türkischen Gesellschaft. Selbst am Tag nach dem Massaker bei der Silvesterfeier im „Reina“ gab ein regierungstreuer Journalist zum Besten: „Wir sind absolut gegen Neujahrsfeiern. Wir werden dies bis zum Ende bekämpfen.“

Viele Opfer stammen aus muslimischen Ländern

Die Äußerungen von Serdar Arseven, Leiter der islamistischen Tageszeitung Milat und ein Mitglied der kleinen Pressemannschaft, die in Erdogans Präsidentenmaschine mitfliegt, konnten als Billigung des Attentats auf die Feiernden im Nachtklub „Reina“ verstanden werden. 39 Menschen erschoss der Attentäter in der Neujahrsnacht kurz nach ein Uhr morgens, allein sieben der ausländischen Opfer stammten aus dem erzkonservativen Saudi-Arabien. Elf weitere kamen ebenfalls aus muslimischen Ländern. „Allah ist groß“, soll der Todesschütze nach Aussagen von Zeugen gerufen haben, während er auf die Gäste feuerte. Am Montag bekannte sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu der Tat.

Der jüngste Anschlag in Istanbul hat auch den Charakter einer islamistischen Strafaktion gegen Muslime erhalten, die gegen die Gebote des Koran verstoßen. Mehmet Görmez, Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, die mittlerweile einen der größten Budgetposten im türkischen Haushalt hat, verurteilte zwar am Sonntag den verheerenden Terrorakt. „Es gibt keinen Unterschied zwischen einem unmenschlichen Angriff auf einen Unterhaltungsort, einen Marktplatz oder ein Gebetshaus“, hieß es in der Erklärung von Görmez. Der einzige Unterschied zwischen dem jüngsten Terroranschlag und früheren sei, dass er Aufruhr stiften soll zwischen Menschen mit verschiedenen Lebensstilen.

Große Anteilnahme. Bei dem Anschlag auf eine Silvesterparty im Istanbuler Klub "Reina" wurden 39 Menschen getötet.
Große Anteilnahme. Bei dem Anschlag auf eine Silvesterparty im Istanbuler Klub "Reina" wurden 39 Menschen getötet.

© Halit Onur Sandal/dpa

Doch in der Freitagspredigt vor Neujahr, die das Diyanet an alle Moscheen in der Türkei aussendet, warnte die Religionsbehörde die Gläubigen ausdrücklich vor Neujahrsfeiern. Respektlos sei es, sich selbst zu vergessen und ein Verhalten an den Tag zu legen, das „in keiner Weise mit unseren Werten übereinstimmt“. Wörtlich heißt es in der Predigt weiter: „Es ist besorgniserregend, dass die ersten Stunden eines neuen Jahres vergeudet werden mit Unterhaltung anderer Kulturen und anderer Welten zu Neujahr. Es ist betrüblich, dass die Stunden, die mit dem Nachdenken über gute und schlechte Taten, über das Gute und das Böse verbracht werden sollen, mit Spielen und Glücksspielen wie die Lotterie verschwendet werden, mit dem Wunsch, reich zu werden, ohne zu arbeiten.“ Milli Piyango, die Volkslotterie, ist in der Türkei vor allem in den unteren Schichten populär.

Gegen "Christenfeste"

Zwei Wochen vor dem Anschlag im „Reina“ häuften sich außerdem Stellungnahmen der offiziellen Türkei ebenso wie Aktionen islamistischer Gruppen gegen die „Christenfeste“. Der Publizist und Historiker Baskin Oran listete sie am Montag kommentarlos in einer Kolumne auf: das Weihnachtsverbot an der deutschen Schule in Istanbul (es wurde nach Protesten wieder zurückgenommen); ein Ausgehverbot zu Neujahr, von Schulbehörden zunächst in Adana, dann in einer Vorortstadt im Westen Istanbuls erlassen; der Angriff einer national-islamistischen Gruppierung in Aydin an der Ägäis-Küste auf einen Türken, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte; die Freitagspredigt des Diyanet; eine Protestaktion des Vereins „Anatolische Jugend“ gegen Weihnachten und Neujahr auf dem Gelände der Istanbul-Universität.

Acht Festnahmen

Mittlerweile hat die Polizei nach dem Massaker im „Reina“ acht Personen festgenommen. Sie sollen in einem Zusammenhang mit dem Anschlag stehen. Ein neues Bild des mutmaßlichen Attentäters wurde veröffentlicht – das verwaschene Porträt eines etwa 25 Jahre alten Mannes, das eine Sicherheitskamera aufgenommen hatte. Er soll aus Kirgistan oder Usbekistan stammen, so wie die IS-Terroristen, die im Juni vergangenen Jahres den Anschlag auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen verübt hatten.

Viele seiner Opfer tötete der Angreifer offenbar mit einem Kopfschuss, berichteten türkische Medien. Anschließend wechselte er in einer Restaurantküche des Nachtklubs seine Kleidung, ließ eine Jacke zurück und entkam in der allgemeinen Panik.

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