zum Hauptinhalt
Viele Stadtteile Bostons glichen am Freitag einer abgeriegelten Festung.

© AFP

Update

Terrorfahndung in Boston: Eine Stadt außer Atem

Der eine Bruder stirbt im Kugelhagel, der andere flieht und hat nichts mehr zu verlieren. Die Fahndung nach den mutmaßlichen Attentätern versetzt Boston in den Ausnahmezustand. Derweil wird immer mehr von den Verdächtigen bekannt.

Als Jeff Bauman in das Gesicht des jungen Mannes blickte, wusste er noch nicht, dass der ihn töten wollte. Im freundlichen Sonnenlicht des frühen Nachmittags sah der 27-Jährige einen ungefähr Gleichaltrigen mit Sonnenbrille und dunkler Baseballkappe, der eine schwarze Jacke über einem hellen Kapuzenpulli trug. Vermutlich auch einer, der einem Marathonläufer kurz vor der Ziellinie zujubeln wollte, dachte sich Bauman. So wie er selbst seiner Freundin. Den schwarzen Rucksack, den der Mann bei sich hatte, stellte er auf den Boden. Zweieinhalb Minuten später war er verschwunden. Bauman wurde in einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden gerissen und spürte nur noch Schmerz, wo vorher seine Beine waren. Die nächsten Momente muss er aus Fotos rekonstruieren. Sie zeigen ihn im Rollstuhl, das eine Bein schwarz verkohlt, das andere blutüberströmt. Bauman kam im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein – ohne Beine und unter schweren Schmerzmitteln. Er verlangte Papier und Stift. „Habe den Typ gesehen, Rucksack, wir blickten uns in die Augen“, kritzelte er. Später gab er dem FBI eine genaue Beschreibung. Sie half den Ermittlern, aus den Videoaufnahmen von Überwachungskameras und Smartphones die beiden Verdächtigen herauszufiltern.

Man weiß inzwischen, dass es zwei tschetschenische Brüder sind

Wie man inzwischen weiß, sind es zwei Brüder aus einer tschetschenischen Familie, die seit rund zehn Jahren in den USA leben und legal ins Land gekommen sind: der 26-jährige Tamerlan und der 19-jährige Dschochar Zarnajew. Nach tschetschenischen Regierungsangaben hatten die Brüder im Kindesalter das frühere Kriegsgebiet im russischen Nordkaukasus verlassen. Die Familie sei bereits vor Jahren aus Russland ausgereist, habe dann in Kasachstan gelebt und sei 2003 schließlich in die USA ausgewandert.

Bauman war beim Marathon dem älteren der beiden Brüder begegnet. Demjenigen, den die Ermittler den „Mann mit der dunklen Baseballkappe“ nannten. Am Donnerstagabend hatte das FBI Fotos der beiden Gesuchten veröffentlicht und damit eine dramatische Kette von Ereignissen in Gang gesetzt. Die Brüder waren in Boston geblieben, sahen sich nun offenbar in der Falle und bereiteten sich auf einen blutigen Abgang vor – entschlossen, weitere Menschen mit in den Tod zu nehmen. Als die Bürger im Großraum Boston am Freitagmorgen aufwachten, glichen viele Wohnviertel abgeriegelten Festungen. Zum Beispiel Cambridge mit seinen beiden berühmten Hochschulen, der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), wenige Kilometer westlich der Altstadt von Boston. Und ebenso in Watertown, einem unspektakulären Vorort rund zwölf Kilometer westlich des Zentrums. Panzerwagen waren aufgefahren. Martialisch wirkende Spezialkräfte mit Helmen, kugelsicheren Westen und Schnellfeuerwaffen zogen von Haus zu Haus. Scharfschützen standen auf Abruf bereit.

In Cambridge hatten die Anwohner seit zwei Uhr früh automatisierte Warnanrufe der Polizei erhalten. Zum Beispiel der 35-jährige Florian Schmitzberger. Nachdem er am Morgen aufgestanden war, sah er gleich die Warnung im E-Mailpostfach seines Smartphones: „Wir bitten Sie, heute nicht zur Arbeit zu kommen. Die Harvard Medical School bleibt heute aufgrund der aktuellen Sicherheitslage geschlossen“, hieß es darin. Es werde nach einem bewaffneten und gefährlichen Verdächtigen gesucht. „Bitte bleiben Sie deshalb zu Hause.“ Dazu die Aufforderung, nur solchen Personen die Tür zu öffnen, die man kenne. Oder Polizisten, die sich ausweisen könnten. Schmitzberger, der aus Österreich kommt und als Biochemiker an der Medical School seinen Post-Doc macht, musste erst mal nachschauen, was passiert war, denn von der Schießerei am Abend vorher hatte er in seinem Wohnort Brookline, etwa eine Autofahrt von 20 Minuten entfernt von Watertown, nichts mitbekommen. Weder von Schüssen noch Sirenen oder Helikoptergeräuschen. Auch am Vorabend sei die Lage entspannt gewesen, „bedroht gefühlt habe ich mich die ganze Woche über nicht“, sagt er.

Die Polizisten verbreiteten ein Gefühl der Sicherheit

Zwar seien seit Montag etliche Polizisten auf dem Campus der Medical School gewesen, wo viele der Verletzten des Marathonattentats behandelt werden, aber die Atmosphäre sei nicht angespannt gewesen. Im Gegenteil. Die Polizisten hätten eher ein Gefühl der Sicherheit verbreitet. In Watertown begannen die Anrufe gegen vier Uhr früh. Im übrigen Boston wurden die Bürger über Radio, Fernsehen und soziale Netzwerke aufgefordert, wachsam zu sein. Der öffentliche Nahverkehr war unterbrochen, Autofahrten wurden verboten, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Die Großfahndung galt dem jüngeren Bruder, den das FBI bei der Pressekonferenz als den „Mann mit der weißen Baseballkappe“ beschrieben hatte. Er sei bewaffnet und extrem gefährlich. Womöglich trage er Sprengstoff am Körper. Der ältere Bruder war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Der Jüngere hatte nichts mehr zu verlieren. Das machte ihn aus Sicht der Einsatzkräfte umso bedrohlicher.

Schüsse am MIT

In der Nacht hatte sich das Zentrum der Suche immer wieder verlagert. Gegen 22 Uhr Ortszeit, rund fünf Stunden nach der Veröffentlichung der Fotos, riefen Anwohner des MIT die Polizei wegen Ruhestörung. Einige hundert Meter weiter nördlich soll die Familie Zarnajew zeitweise gewohnt haben, in der Norfolk Street. Ein Campus-Polizist übernahm den Auftrag. Gegen 22 Uhr 30 berichteten Anwohner der Polizei von Schüssen. Die Verstärkung fand den Campus-Polizisten mit mehreren Schusswunden in seinem Streifenwagen. Er starb wenig später.

Das MIT begann bald nach den ersten Schüssen, per E-Mail Warnungen an seine Wissenschaftler und Studenten zu verschicken. Die erste um zehn vor elf mit dem Betreff „Active Shooter“. Rund um das Gebäude 32 gebe es eine Schießerei, man solle sich von der Gegend fernhalten. Eine halbe Stunde später folgte die zweite Warnung, auf keinen Fall nach draußen zu gehen oder das Gelände zu betreten. Kurz darauf traf schon der nächste Notruf ein: ein Überfall auf ein „7 Eleven“-Geschäft. Und dann die Entführung eines Autofahrers samt seinem Mercedes-Geländewagen. Der Mann hatte Glück. Die Brüder ließen ihn 30 Minuten später an einer Tankstelle am Memorial Drive frei, unverletzt. Nachdem die Polizei das gesuchte Auto im Viertel Watertown entdeckt hatte, kam es zu einer Verfolgungsjagd mit Schusswechseln. Die Gesuchten warfen mehrere Sprengsätze aus dem Auto. Nicht alle, aber einige explodierten. Die Polizei errichtete Straßenblockaden.

In der Gegend zwischen Arsenal und Boylston Street wurde das Auto mit vielen Einschüssen gefunden – und der ältere Bruder Tamerlan schwer verletzt. Er starb kurz darauf im Krankenhaus. Nach Angaben von Ärzten wurde er von extrem vielen Kugeln getroffen. Die Zahl der Einschüsse sei „nicht zu zählen gewesen“, sagte ein Krankenhausarzt. Dschochar, der Jüngere, ist seitdem zu Fuß auf der Flucht.

Erst waren es nur Bruchstücke, doch im Laufe des Tages wurde immer mehr über das Leben der Brüder bekannt. Der Vater, Ansor Zarnajew, meldete sich aus der Hauptstadt Dagestans zu Wort und bezeichnete seine Söhne als „strenggläubige Muslime“. Die US-Geheimdienste hätten seine Söhne „in eine Falle gelockt“, sagte Zarnajew der Nachrichtenagentur Interfax. Sie hätten seinen Sohn „lebend fassen müssen“.

Der Verdächtige soll keinen einzigen amerikanischen Freund haben.

Tamerlan Zarnajew soll sein Ingenieur-Studium in Boston unterbrochen haben, um für den Box-Wettbewerb National Golden Gloves zu trainieren. Einem Fotografen hatte er erklärt: „Ich habe keinen einzigen amerikanischen Freund.“ Die Amerikaner verstehe er nicht, in der Gesellschaft gebe es „keine Werte“, die Menschen seien „unkontrolliert“. Auf seiner YouTube-Seite, die er im August 2012 erstellte, zeigte Tamerlan mehrere Lieblings-Videos an, die zu den Rubriken „Islam“ und „Terrorismus“ zählen. Der 19-jährige Dschochar ist laut der Auskunft seines Vaters ein Medizinstudent. Er errang 2011 einen mit 2500 Dollar dotierten Preis im Ringen. Ein Schulfreund sagte dem Nachrichtensender CNN, Dschochar habe „nie etwas Bösartiges“ gezeigt, „nichts, woraus man schließen könnte, dass er zu so etwas in der Lage wäre“. Im übrigen Land, fern von Boston, sind die Sicherheitsvorkehrungen nicht merklich verstärkt worden. Das Ministerium für Heimatschutz bewertet den Bedrohungszustand weiterhin als „elevated“, das ist die mittlere von fünf Alarmstufen.

Die USA haben eine dramatische Woche hinter sich

Dabei haben die USA eine dramatische Woche hinter sich. Sie begann mit den Bomben beim Marathon in Boston am Montag. Am Dienstag wurden Briefe mit Spuren des potenziell tödlichen Giftes Rizin entdeckt, die an den Präsidenten Barack Obama und den republikanischen Senator von Mississippi, Roger Wicker, adressiert waren. Am Donnerstag explodierte in Texas eine Düngemittelfabrik unter ungeklärten Umständen. Das Land hätte also nachvollziehbare Gründe für Panik und höchste Sicherheitsmaßnahmen. Doch zur Überraschung vieler Beobachter im Ausland reagieren die Regierung und die Bürger pragmatisch-nüchtern. Nur in Watertown stellen sich Polizei und Anwohner auf einen Belagerungszustand von ungewisser Dauer ein.

Am Freitag trat der Onkel der Zarnajew-Brüder vor die Kameras.
„Was sie taten, ist eine Schande“, schrie er in die Mikrofone zahlreicher Journalisten vor seinem Haus. Der Anschlag sei abscheulich. „Sie haben es nicht geschafft, sich ein Leben aufzubauen und hassten deshalb alle anderen“, sagte Ruslan Tsarni. Ein muskulöser Mann, mit graumeliertem Haar und hellblauen Sporthemd. Er sei Tschetschene, genau wie seine Neffen, und Muslim. „Aber das hat alles nichts mit Religion zu tun.“ Jemand habe die beiden Jungen radikalisiert, „aber es war nicht mein Bruder“. Seine Neffen habe er zuletzt im Jahr 2005 gesehen und dem Untergetauchten jetzt nur noch eines zu sagen: „Dschochar, wenn du am Leben bist, stelle dich und bitte um Vergebung.“ (mit Sonja Pohlmann)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false