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Politik: „Teuer, ohne entsprechende Lebensqualität“

Der deutsche Chefökonom einer konservativen britischen Denkfabrik verabschiedet sich desillusioniert von London

Diese Mischung ist in England gefährlich. Ein Deutscher, der nach Australien auswandert und sich vorher noch über die britische Hauptstadt mokiert. Das kommt nicht gut an. Vor allem dann nicht, wenn es sich auch noch um den Chef-Ökonomen von Policy Exchange, der wichtigsten und einflussreichsten politischen Beratungsfirma der konservativen Tories handelt. Oliver Hartwich ist genau diese Mischung mit der er in diesen Tagen in England Aufsehen erregt.

Policy Exchange erarbeitet auf allen Politikfeldern wissenschaftliche Studien, aus denen die Berater dann ein politisches Programm für die Tories stricken. Hartwichs Spezialgebiet ist der Wohnungs- und Städtebau. Der gebürtige Essener hat mit Kollegen überprüft, ob sich der Einsatz von mehreren hundert Millionen Pfund in Städtebauprojekte gelohnt hat. Vor allem die Schere zwischen Nord und Süd sollte mit dem Geld geschlossen werden. Doch genau das ist nicht passiert. „Die Lücke wird in vielen Bereichen immer größer“, sagt Hartwich. Städte wie Liverpool verlieren immer mehr Einwohner und schneiden in Kategorien wie Bildungsniveau, Lebenserwartung und Wirtschaftswachstum stets schlechter ab als vergleichbare Städte. Daraus schlussfolgerten er und seine Kollegen, dass man den Schrumpfungsprozess nicht stoppen, aber gestalten kann. „Deshalb haben wir vorgeschlagen, erstens den Kommunalpolitikern mehr Kompetenzen einzuräumen und zweitens, London um eine Meile in alle Richtungen zu erweitern, was kein Problem wäre“, sagt Hartwich. Doch ganz England inklusive David Cameron reagierte empört. Von Evakuierungsplänen für Liverpool war die Rede und Kollegen wurde via Internet sogar Gewalt angedroht. „Dabei haben wir nie gefordert, Liverpool zu schließen“, sagt Hartwich.

Hartwich verlässt Policy Exchange im Oktober Richtung Sydney. Doch bevor er geht, hat er seine Erfahrungen in England, speziell in London, wo er seit 2004 lebt, in einem Buch niedergeschrieben. „Nachruf auf eine großartige Nation“ heißt es und wird im Januar in Deutschland erscheinen. Es ist eine kleine Abrechnung mit den Mythen und Vorstellungen vom Leben in Großbritannien. „Ich mag dieses Land, aber ich bin etwas desillusioniert“, sagt Hartwich, der sich selbst als Liberalen bezeichnet.

Bei seiner Ankunft in Großbritannien hat er ein dereguliertes, kapitalistisches Land erwartet. Doch es war anders. Allein der von London aus zentralgesteuerte Häuser- und Wohnungsmarkt sei völlig reglementiert und dadurch teuer. „Insgesamt ist das Leben in London beschwerlich, weil es sehr teuer ist, ohne die entsprechende Lebensqualität dafür zu bekommen“, sagt Hartwich. Der Transport, der Flughafen, der Verkehr, die Polizei, die Preise seien alles Beispiele dafür. Bei Einbrüchen oder Autodiebstählen komme die Polizei erst Tage später, der Flughafen in Heathrow ist überlastet, aber über eine Erweiterung wird seit Jahren ergebnislos debattiert, die Häuser sind alt, klein und überteuert. „Und in der U-Bahn liegen die Temperaturen spätestens ab April jenseits der Temperaturen, die die EU für den Viehtransport zulässt“, sagt Hartwich. Die Staatsquote sei kontinuierlich gestiegen, auch unter New Labour. „England muss sich wieder mehr trauen und von unnötigem Ballast befreien, aber dieses Land ist so unbeweglich und im falschen Sinn konservativ, dass dies schwer wird“, sagt Hartwich.

Die Tories könnten neuen Schwung auf die Insel bringen. „Aber auch die Opposition hat längst noch nicht auf jedem Politikfeld einen zündenden Entwurf.“ David Cameron liege zwar derzeit uneinholbar gegenüber Premierminister Gordon Brown in Führung, aber „der britische Wählermarkt ist sehr volatil“, sagt Hartwich. Fraglich ist, ob Cameron auch gegen einen anderen Kandidaten wie beispielsweise Außenminister David Miliband, den wichtigsten parteiinternen Kontrahenten von Brown, gewinnen würde. „Die Briten sind noch nicht hundertprozentig von Cameron überzeugt“, meint Hartwich. Auch er persönlich ist in einem Punkt enttäuscht: Camerons Wirtschaftspolitik. „Er will Labours Finanzpläne für die nächsten Jahre übernehmen und sogar höhere Steuern akzeptieren – das wäre katastrophal.“

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