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Diese Stahlhülle soll auf Schienen über den zerstörten Reaktor 4 samt den ihn umschließenden Sarkophag gefahren werden. Wenn sie denn irgendwann fertig wird.

© dpa

Todeszone in der Ukraine: Der Sarkophag in Tschernobyl als Millionensarg

Der Bau einer Schutzhülle um den havarierten Atomreaktor 4 in Tschernobyl droht aus Geldmangel zu stoppen. 28 Jahre nach der Katastrophe wird die Todeszone zum Millionensarg - und ist längst ein Tourismusmagnet.

Tschernobyl? Apokalypse! 28 Jahre nach der Explosion im Norden der Ukraine ist das Wort Tschernobyl immer noch ein Synonym für totale Zerstörung. Die Ruine des ehemaligen Atomkraftwerks ist heute jedoch auch ein schreckliches, strahlendes Monument. Es erinnert an die marode Sowjetunion, die 1986 die nuklearen Geister nicht mehr bändigen konnte, die sie im Kampf der Systeme gegen den Westen entfacht hatte. Es erinnert – seit 2011 gemeinsam mit dem japanischen Fukushima – daran, dass der Mensch die Atomkraft nur so lange beherrschen kann, wie er keine gravierenden Fehler macht oder von Naturgewalten überrascht wird. Zunehmend erinnert die Atomruine jedoch auch daran, was seit 1990 alles schief gelaufen ist in den ehemaligen Sowjetrepubliken und an die unrühmliche Rolle des Westens bei diesem Transformationsprozess.

Wie es Dienstag in Berlin aus Regierungskreisen bekannt wurde, fehlen zum Bau einer Schutzhülle um den havarierten Reaktor 4 über 600 Millionen Euro. Die Schutzhülle mit gigantischen Ausmaßen, von 42 000 Quadratmetern ist die Rede, soll den 1986 nach dem Unglück errichteten Sarkophag umhüllen, der den Reaktor umhüllt, allerdings voller Risse und baulicher Mängel ist und ohnehin immer nur als Provisorium gedacht war. Wenn die Schutzhülle nicht gebaut wird, „ist es ein ernstzunehmendes Sicherheitsproblem“, sagt die atompolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Sylvia Kotting-Uhl. „Die Fertigstellung der neuen Schutzhülle für den Sarkophag ist unabdingbar, um den havarierten Reaktor sicher zu umschließen und seinen Abbau zu ermöglichen“, sagt Bundesumweltministerin Barbara Hendricks. Und während die Politiker in Deutschland und Europa all diese mahnenden Worte sprechen, wandern massenweise Touristen durch die Todeszone.

Der Vater von Vitali Klitschko war einer der "Liquidatoren"

Die unweit des Reaktors liegende Geisterstadt Prypjat hat sich zu einem Tourismusmagnet entwickelt. Bis zu 15 000 Menschen sollen 2013 das verseuchte Gebiet besucht haben, Tagestouren aus Kiew werden auch bei Europäern immer beliebter, Sicherheitsbedenken haben die wenigsten. Dabei könnte sogar der aktuelle Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko eine besondere Geschichte zu Tschernobyl erzählen. Sein Vater war 1986 als Oberst der Luftwaffe einer der jungen Sowjet-Soldaten, die als „Liquidatoren“ praktisch schutzlos den heute brüchigen Sarkophag hochgezogen haben. Der ist der zwar schon lange selbst eine Ruine, überstand aber immerhin 1990 ein Erdbeben in der Region und rettete vielen Menschen in ganz Europa das Leben. Der Vater von Vitali Klitschko starb vor drei Jahren. An Krebs.

Die Unglückstouristen machen indes nur einen kleinen Teil des Geschäfts mit Tschernobyl aus. Der wohl mit Abstand größte ist die Schutzhülle selbst. Bis 1997 zahlten westliche Länder, aber auch Russland, unkontrolliert Geld an die Ukraine, die damit den Sarkophag ausbessern und die Schutzhülle planen sollte. Das Geld versickerte, hunderte Millionen Euro sollen es sein, so genau weiß das niemand mehr. Die G7 schmiedete 1997 deshalb einen Fond, um noch mehr Geld für die Schutzhülle zu sammeln und es vielleicht sogar besser zu verwalten. Deutschland gehörte immer zu den größten Geldgebern.

Ohnehin spielt die Bundesrepublik eine besondere Rolle in Tschernobyl. Als damalige Umweltministerin startete die heutige Kanzlerin Angela Merkel damals mit ihrer französischen Amtskollegin eine „deutsch-französische Initiative“, um zu untersuchen, wie viel strahlendes Material eigentlich noch unter dem Sarkophag lagert und wie die Strahlenlast wenigstens für 100 Jahre sicher ummantelt werden kann. So entstand jener Plan einer bogenförmigen Schutzhülle,  die 1,45 Milliarden Euro kosten soll. Diese Summe wird nicht zu halten sein, ebenso wenig der Zeitplan. Selbst wenn eine neue Geberrunde in diesem Oktober, so wird bislang gehofft, frisches Geld einbringt, ist die Gefahr, dass es in der Todeszone versickert wie das bisherige, sehr groß.

Einige Männer in Leibchen statt hunderter Ingenieure

Beweise für Untreue sind in dem offiziell unbewohnten Gebiet rund um Tschernobyl naturgemäß schwer zu erhalten. Wie es jedoch aussieht, wenn Hunderte vom Westen bezahlte, angeblich hochspezialisierte Ingenieure am Reaktor arbeiten, zeigt beispielsweise eine Dokumentation des ZDF von 2011. In „Der Millionensarg“ stehen an einem normalen Wochentag einige unmotivierte Männer in gelben Leibchen dort herum, wo laut Verträgen gerade Europa vor einer immer noch schwelenden atomaren Gefahr gerettet wird. Der Westen zahlt, aber er kontrolliert nicht, was mit dem Geld passiert. Am Ende profitieren immer die gleichen: Der gesamte Bausektor der Ukraine ist seit vielen Jahren unter den Oligarchen aufgeteilt.

„Der Millionsarg“ hat noch eine steile These zu bieten. Fast das gesamte Atommaterial sei demnach bereits 1986 ausgetreten – die offizielle Position ist genau umgekehrt – weshalb von Reaktor 4 keine Gefahr mehr ausgehe und eine neue Schutzhülle in dieser Dimension nicht mehr nötig sei. Auch wenn an dieser Stelle die Grenze zu Verschwörungstheorie zumindest gestreift wird, ist angesichts der damaligen sowjetischen Politik des Verschweigens kaum davon auszugehen, dass die Machthaber 1986 das volle Ausmaß des Unglücks bekannt machten. Zumindest das Leid der Bewohner der Gegend um Prypjat, die viel zu spät evakuiert wurden, ist vielfach nachgewiesen. mit dpa

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