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Aktivisten der Umweltorganisation Greenpeace projizieren am frühen Morgen des 02.05.2016 Teile des bisher geheimen Verhandlungstextes und den Schriftzug "Demokratie braucht Transparenz" auf die Fassade des Reichstagsgebäudes in Berlin, den Sitz des Deutschen Bundestages.

© dpa

Transatlantisches Freihandelsabkommen: Scheitert TTIP? - Warum sollte es?

Der Streit um das Wirtschaftsabkommen TTIP wird immer mehr zur Glaubensfrage: Gegner und Befürworter nehmen die Realität unterschiedlich wahr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der gemeinsame Nenner, was geschehen ist, worum es überhaupt geht und was die Folgen sind, ist sehr, sehr klein. Greenpeace hat am Montag Unterlagen zu den Gesprächen über das Transatlantische Wirtschaftsabkommen TTIP veröffentlicht, von denen die Umweltschutzorganisation behauptet, dass sie brisante Informationen enthalten, die bisher geheim gehalten wurden. Das ist schon so ziemlich alles, was als gesichert gelten darf. Bei allen weiteren Fragen gehen die Wahrnehmung und die Darstellung weit auseinander. Und schon das ist eigentlich höchst erstaunlich bei einem Thema, zu dem eine Fülle von Informationen und Überprüfungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Enthüllung oder Irreführung?

Greenpeace und andere TTIP-Gegner sprechen von Enthüllungen und halten sie für so bedeutsam, dass die Konsequenzen klar seien: TTIP werde scheitern, weil der Widerstand aus der Bevölkerung sehr groß sei. Sie verweisen auf Massenproteste, auf die Verschiebung in den Meinungsumfragen und darauf, dass der französische Premierminister Valls, der bislang nicht im Lager der Gegner zu finden war, mit einem Verhandlungsstopp droht. Viele deutsche Medien übernahmen diese Interpretation, wenn auch zumeist in Frageform: Scheitert TTIP?

TTIP-Befürworter sehen die Lage völlig anders. Greenpeace arbeite mit bewusst irreführenden Darstellungen. Das gelte ebenso für andere Aktivisten, zum Beispiel Campact und Attac. Die angeblichen Enthüllungen enthalten keine neuen Informationen. Diese seien vorher auch nicht geheim gehalten worden, sondern hätten öffentlich zur Verfügung gestanden. Und da dies alles ein durchsichtiger Propagandaversuch sei, stelle sich folglich auch nicht die Frage, ob daraus ein Scheitern von TTIP folgen könne.

In gewissen Kreisen der Bevölkerung hätten die Gegner zwar einen beunruhigenden Erfolg mit ihrer Negativpropaganda. Aber das beschränke sich im Wesentlichen auf drei der 28 EU-Staaten: Deutschland, Österreich, Luxemburg. In der EU insgesamt seien die Befürworter in der Mehrheit. Die EU-Kommission, die US-Regierung, die Bundeskanzlerin bekräftigten allesamt: Wir wollen TTIP. Die Vorteile für die USA und Europa lägen auf der Hand. Deshalb werden, sofern die Verhandlungen zu einem guten Vertragsentwurf führen, am Ende auch das Europaparlament und die nationalen Parlamente zustimmen. Warum also solle TTIP scheitern?

Beide Lager argumentieren in geschlossenen Denksystemen. Pro oder Contra TTIP - das sollte eine Frage der besseren Argumente sein. Es wird aber immer mehr zu einer Glaubensfrage. Und zum Kampf um das Vokabular und die Meinungshoheit. Die zentralen Fragen in der öffentlichen Debatte um die von Greenpeace veröffentlichten TTIP-Papiere betrafen vier Bereiche: Transparenz, bzw. "Geheimgespräche"; die Befürchtung einer Absenkung des Verbraucherschutzes und der Umweltstandards; Agrarmarkt und Lebensmittelsicherheit; Investorenschutz und Schiedsgerichtsbarkeit.

Der Glaubwürdigkeitstest

In allen diesen Bereichen kann eigentlich jeder Bürger, der die Nachrichten verfolgt, sich ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der gegenläufigen Behauptungen bilden. Man muss dafür kein TTIP-Spezialist sein und auch nicht viel Zeit in das Erwerben von Detailkenntnis investieren.

"Geheimgespräche"?

Die Verhandlungen werden nicht auf dem offenen Markt geführt - wie ja generell internationale Verträge noch nie öffentlich ausgehandelt wurden. Aber "geheim" sind sie auch nicht. Vor jeder TTIP-Verhandlungsrunde ist öffentlich bekannt, wo sie wann stattfinden, wer sie führt und über welche Themen gesprochen wird. Die EU stellt ihre Verhandlungsvorschläge sogar vorab ins Internet. Damit sind dies die transparentesten Gespräche, die es je gegeben hat. Kannte man, zum Beispiel bei den Weltklimagesprächen, alle Verhandlungspositionen der Chinesen, Russen, Inder usw. vorab? Wurden die Gespräche hinter geschlossenen Türen zur Kompromissfindung protokolliert und wurden diese Protokolle der Öffentlichkeit vorgelegt?

Klar, man darf noch mehr Öffentlichkeit fordern. Man darf aber auch zurückfragen, ob die Organisationen und Individuen, die das fordern, erstens, den selben Maßstab an vergleichbare Vorgänge, zum Beispiel das Aushandelns einer Koalitionsvereinbarung oder eines neuen Gesetzes anlegen? Und, zweitens, ob sie den geforderten Grad an Offenheit in ihren eigenen Angelegenheiten praktizieren? Nein, Koalitionsverhandlungen sind nicht öffentlich, obwohl es um das Regierungsprogramm der nächsten Jahre geht. Wenn die Grünen, die Linke, die SPD, die Union ihre Haltung zur Novelle, zum Beispiel, der Vorratsdatenspeicherung intern besprechen, ist die Öffentlichkeit nicht dabei. Und ebenso wenig, wenn Greenpeace, Campact oder Attac ihre Aktionen und Strategien planen oder beraten, von wem sie Spenden akzeptieren und von wem nicht.

Befürchtete Absenkung der Standards

Die Behauptung, dass die Standards bei Verbraucherschutz und Umwelt sowie der Wille zur Durchsetzung in den USA geringer seien als in Europa, steht in auffälligem Gegensatz zu den Schlagzeilen der letzten Monate. Wer geht konsequenter vor, wenn Autokonzerne bei den Abgasvorgaben mogeln: die USA oder die EU-Länder? Volkswagen kann ein Lied davon singen. Wo zahlen Erdölkonzerne die höheren Strafen, wenn es zu Umweltkatastrophen kommt? BP und Exxon haben da ihre Erfahrungen. Und wo wird härter gegen Korruption, zum Beispiel im Weltfußballverband FIFA, vorgegangen?

Lebensmittelsicherheit

In ähnlichem Kontrast stehen die Behauptungen über angebliche Gesundheitsgefährdungen durch amerikanische "Chlorhühnchen" und die nachweislichen Fleischskandale und Vergiftungen durch unsaubere Salate. In Europa gab es Salmonellen-Skandale und zuvor den BSE-Skandal bei Rindfleisch. In Europa ist die massenhafte Verabreichung von Antibiotika das größere Problem. Von vergleichbaren Gefahren durch die in den USA übliche Keimabtötung mit Hilfe von Chlorbad ist nichts bekannt. Vielmehr haben einige EU-Länder die Methode des Desinfizierens des Salats durch Besprühen mit einer Chlorlösung übernommen, nachdem 2011 Tausende in Norddeutschland und Frankreich nach dem Verzehr von Sprossen erkrankten, die mit Kolibakterien verseucht waren.

Streit gibt es auch um die von den USA geforderte Öffnung des EU-Markts für genveränderte Lebensmittel. Dafür gibt es zwei denkbare Lösungen: Erstens das Festhalten der EU am Importverbot für jene genveränderten Produkte, deren Einfuhr nicht bereits nach gründlicher Folgenabschätzung genehmigt wurde. Oder eine konsequente Kennzeichnungspflicht. Dann kann der mündige Bürger entscheiden, was er kaufen möchte und was nicht. Nach aller Erfahrung verschwinden Produkte, die niemand kaufen möchte, in einer Marktwirtschaft rasch aus den Regalen.

Investorenschutz und Gerichtsbarkeit

Man kann mit guten Argumenten zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, ob spezielle Klauseln zum Investitionsschutz und zur Gerichtsbarkeit in Streitfällen zwischen der EU und den USA überhaupt nötig sind. Schließlich sind die EU-Mitglieder und die USA Rechtsstaaten. Ebenso gibt es gute Argumente für die bisherige internationale Praxis nicht-staatlicher Schiedsgerichte wie auch dagegen. Zu einem Glaubwürdigkeitstest wird es jedoch, wenn Gegner oder Befürworter von TTIP nicht mit solchen redlichen Argumenten streiten, sondern Behauptungen in die Welt setzen, die eindeutig unwahr sind. Wie zum Beispiel die Darstellung, dass Schiedsgerichte eine Erfindung geldgieriger amerikanischer Rechtsanwälte seien und ganz überwiegend US-Konzerne von solchen Klagemöglichkeiten Gebrauch machen. Die Wahrheit ist: Deutschland hat die meisten internationalen Verträge mit Klauseln zur Schiedsgerichtsbarkeit abgeschlossen. Und international klagen europäische Firmen am häufigsten auf Grundlage solcher Klauseln.

Scheitert TTIP oder kommt es doch?

Und wie gehen diese Kämpfe um die öffentliche Meinung am Ende aus? Scheitert TTIP, wie die Gegner das anstreben? Oder kommt TTIP am Ende doch? Manche meinen, das hänge davon ab, ob Sigmar Gabriel sich dem Druck der SPD-Linken beugen muss. Oder ob die französische Regierung sich so nah an den politischen Abgrund gedrängt sieht, dass Premier Valls ein Entlastungsthema suchen muss wie zum Beispiel den Verhandlungsstopp bei TTIP. Aber das sind, bei genauem Hinsehen ja nicht einsame individuelle Entscheidungen eines Sigmar Gabriel oder eines Manuel Valls. Wie sie sich entscheiden, hängt von gesellschaftlichen Druckverhältnissen ab.

Anders gesagt: Es hängt davon ab, welche Sprache, welche Darstellung, welche Argumente sich durchsetzen. Also: von der Bereitschaft mündiger Bürger - und ihrer Medien -, sich vorurteilsfrei mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wer informiert redlich? Wer arbeiten mit Irreführungen und Unwahrheiten? Wem glaube ich und wem vertraue ich nicht mehr, weil ich mich belogen fühle?

Nutzen und Missbrauch von Umfragen

Dabei spielen auch Umfragen eine Rolle - und der Umgang mit ihnen. Interessiert nur, was ins eigene Bild passt? Oder werden die Ergebnisse in allen Facetten aufgenommen? Die jüngste Bertelsmann-Erhebung kam vor allem mit einem Teilergebnis in die Medien: Nur 17 Prozent der Deutschen halten TTIP für eine gute Sache, 33 Prozent für eine schlechte. Aber ist für die Einordung nicht ebenso wichtig, dass 50 Prozent angeben, dass sie nicht genug über TTIP wissen, um eine Meinung zu haben, oder es neutral bewerten? 56 Prozent sagen im Übrigen in der selben Umfrage, sie finden es gut oder sogar sehr gut, dass die USA zu Deutschlands größtem Handelspartner aufgestiegen sind. Nur halb so viele bewerten das negativ.

Zu diesem einseitigen Gebrauch - oder soll man sagen: Missbrauch - von Umfragen gehört es auch, dass TTIP-Gegner gerne Zahlen zitieren, die auf eine skeptische Haltung zu TTIP schließen lassen, aber die grundsätzlich positive Grundhaltung der großen Mehrheit der Deutschen zum Freihandel unterschlagen. Zum Beispiel Foodwatchs Pressemitteilung im Juli 2015 über die von Foodwatch bei Emnid in Auftrag gegebene Umfrage zur TTIP, Schiedsgerichten und Freihandel. 45 Prozent waren damals gegen private Schiedsgerichte gab Foodwatch bekannt, 37 dafür. Die Haltung der Deutschen zu TTIP wurde als "schwankend" beschrieben. Dass 85 Prozent sich in dieser Umfrage positiv über den wachsenden freien Handel geäußert hatten, erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Warum wohl?

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