zum Hauptinhalt
Kundus ist am Wochenende an die Taliban gefallen. Dort werden die Trümmer von Geschäften inspiziert, die bei den Kämpfen zerstört wurden.

© dpa

Trotz Bundeswehr-Abzug: Wir sind den Menschen in Afghanistan schuldig, sie jetzt nicht aufzugeben

Kundus fällt an die Taliban - aber bleibt eine Verpflichtung. Erst wenn uns das Schicksal gleichgültig wird, wird die Niederlage endgültig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Birnbaum

In der Welt der Kriege hat die Hoffnung meistens keine lange Halbwertszeit. Die Nachricht über die Eroberung von Kundus wäre so gesehen kaum eine Randnotiz wert. Die Region ist immer Taliban-Land geblieben. Der Fall der Stadt – nur eine Frage des Datums.

2015 hatten die Islamisten sie zum ersten Mal überrannt, zwei Jahre, nachdem die Bundeswehr ihr Feldlager geräumt hatte. Die Eroberer wussten um den Symbolwert. Damals hielten sie sich nur wenige Tage. Diesmal bleiben sie, weil keiner mehr in Sicht ist, der ihnen den Sieg streitig machen kann.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Bundeswehr ist inzwischen komplett abgezogen aus Afghanistan. Trotzdem fühlt sich der Fall von Kundus noch im Nachhinein wie die endgültige Niederlage an. 20 Jahre, 59 Tote – und jetzt bricht in ein paar Wochen alles wieder zusammen? Das deprimierende Ende eines Kapitels, das Deutschland besser gar nicht erst aufgeschlagen hätte?

Beim Marschbefehl waren die Bilder von 9/11 noch frisch

Die Frage stellen sich nicht nur prinzipielle Pazifisten. Im Nachhinein fällt das allerdings auch leicht. Als ausgerechnet eine rot-grüne Regierung den Marschbefehl gab, waren die Schreckensbilder der einstürzenden Türme in New York noch frisch. Die Terror-Planer und ihre Gastgeber aus ihrem sicheren Hafen im Hindukusch zu verjagen war vielleicht eine hilflose, aber nicht von vornherein sinnlose Reaktion. Nur ist dem Impuls nie wirklich ein Plan gefolgt.

Klar, den hatte niemand fertig in der Schublade. Dafür ist Afghanistan ein viel zu kompliziertes Land, und dafür fehlte es allen Beteiligten im westlichen Bündnis an Erfahrung. Heute wissen sie vieles besser, was sie damals eben nicht wussten. Wie so oft im politischen Krisenmanagement blieb ihnen dazwischen nur tastendes Durchwursteln.

[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter "Washington Weekly" unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung.]

Dass am Anfang kein Plan stand, war also normal. Das Problem ist, dass bis zum Ende keiner dazukam, der ernsthaft den Preis benannte, den der Einsatz kosten durfte. So wie der Bundestag alle Jahre das Mandat verlängerte, zuletzt mit immer geringerer Überzeugung, so hangelte sich das ganze Bündnis von Zwischenziel zu Zwischenziel. Zuletzt blieben eine halbherzige Ausbildungsmission übrig und ein militärisches Patt.

Die afghanische Führung hat Anteil an der Lage

Für die Misere ist nicht der Westen allein verantwortlich. Afghanische Führungseliten erwiesen sich immer wieder als unfähig und unwillig, ihr Land zu verändern, in dem sie selbst durchaus auskömmlich leben. Aber Korruption und andere Landesbräuche muss halt in Rechnung stellen, wer sich als Militärbündnis aufmacht in andere Weltgegenden mit dem Anspruch, dort die eigene Sicherheit zu verteidigen.

[Lesen Sie bei T-Plus: Zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan über einen Helfer der Deutschen - den die Taliban nun ermorden wollen.]

Er muss vor allem eine Idee davon haben, wie viel von dieser Sicherheit er will. Reicht es, die Mördertrupps von Al Qaida aus den Berghöhlen von Tora Bora zu verjagen und ihren Anführer Osama bin Laden unschädlich zu machen? Oder braucht es mehr? Muss – und zwar nicht aus Sendungsbewusstsein, sondern aus Eigeninteresse – aus einer akuten Krisenregion eine werden, in der Dauerkrisen wenigstens beherrschbar bleiben? Im Zweifel um den Preis, dort auf viele Jahrzehnte hinaus präsent zu sein, Ende offen?

Die Taliban haben einen langen Atem

Die Frage ist alles andere als akademisch. Von der Antwort hängt schon alleine ab, wann und zu welchen Bedingungen man mit seinen Gegnern ins Gespräch kommt. Wer mit den Taliban erst verhandelt, wenn der eigene Abzug an der innenpolitischen Heimatfront längst unabweisbar geworden ist, darf sich über die Folgen nicht wundern. Die Taliban haben einen langen Atem. Ihre Islamisten-Kollegen in Mali übrigens auch.

So war der Fall von Kundus unabwendbar. Trotzdem bleibt die Stadt eine Verpflichtung. Erst wenn ihr Schicksal uns gleichgültig wird, wird die Niederlage endgültig. Mit den neuen Herren zu reden ist schwierig und unbefriedigend. Aber ausloten, wie viel an Freiheit, an Bildung, an Fortschritt sie weiter dulden, wenn es ihnen selber nützt, das sind wir den Menschen schuldig. Eine Illusion? Mag sein. Doch in der Welt der Kriege bleibt oft nicht mehr als die Hoffnung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false