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Türkei: Beginnt der Herbst des Patriarchen Erdogan?

Er will Recep Tayyip Erdogan im Amt des türkischen Ministerpräsidenten beerben: Kemal Kilicdaroglo, der auf den ersten Blick wie ein grauer Finanzbeamter wirkt, hofft, bei den anstehenden Kommunalwahlen die Wähler auf seine Seite ziehen zu können.

Sieht so ein Politiker aus, vor dem der mächtigste Ministerpräsident der Türkei seit Jahrzehnten erzittern soll? Grauer Haarkranz, runde Nickelbrille - Kemal Kilicdaroglo wirkt eher wie ein unscheinbarer Finanzbeamter, und nicht wie jemand, der sich anschickt, bei den Kommunalwahlen am kommenden Sonntag Istanbul zu erobern, die größte Stadt der Türkei. Und doch glauben Oppositionskandidat Kilicdaroglu und seine Anhänger, eine politische Waffe gefunden zu haben, mit der sie den erfolgsverwöhnten Premier Recep Tayyip Erdogan in die Ecke drängen können.

Ein bleigrauer Himmel hängt über dem Marktplatz im Viertel Sultan Gazi im Norden Istanbuls. Mitglieder der säkulär-nationalistischen Oppositionspartei CHP haben einen Lastwagenanhänger als Bühne hergerichtet, einige hundert Menschen schwenken rot-weiße Parteifahnen und Transparente. Doch es wird eher pflichtschuldig als ausgelassen geklatscht. Sultan Gazi ist kein leichtes Pflaster für die CHP; der Bezirk, zu dem das Arbeiterviertel gehört, wird wie die meisten Bezirke in Istanbul und die Großstadtverwaltung selbst von Erdogans fromm-konservativer AK-Partei regiert.

Erst als Kilicdaroglu auf der Bühne auftaucht, bricht lauter Jubel aus. Kilicdaroglu, 61, Oberbürgermeisterkandidat der CHP in Istanbul, winkt, wirft rote Nelken in die Menge und herzt noch ein Baby, bevor er das Mikrophon nimmt. "Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren hatte Herr Erdogan nicht einmal genug Geld, um sich Stollen für seine Fußballschuhe zu kaufen", beginnt Kilicdaroglu, die Stimme heiser von den vielen Wahlkampfreden der letzten Wochen. "Heute ist Erdogan einer der reichsten Regierungschefs der Welt. Wo kommt das Geld her?"

Stürmischer Beifall zeigt, dass Kilicdaroglu zumindest in Sultan Gazi einen Nerv getroffen hat mit seinem Wahlkampfthema: der wuchernden Korruption, die sich bei Erdogan und dessen Genossen in der AKP breit gemacht haben soll. Im vergangenen Jahr sorgte ein Spendenskandal in Deutschland um die Wohlfahrtsorganisation "Deniz Feneri" (Leuchtturm) in der Türkei für Schlagzeilen, weil Erdogans AKP angeblich von veruntreutem Geld profitierte. Kilicdaroglu selbst wurde über Nacht vom Hinterbänkler im Ankaraner Parlament zum landesweit bekannten Polit-Star, als er mit der Vorlage von belastenden Dokumenten den Rücktritt von zwei hochrangigen AKP-Funktion erzwang. Nun soll er für die CHP in Istanbul gewinnen.

Kilicdaroglu tritt gegen den regierenden AKP-Bürgermeister Kadir Topbas an, aber auch gegen Erdogan selbst. Der Premier hat sich in Istanbul, das er in den neunziger Jahren als Bürgermeister regierte, mit besonderer Verve in den Kommunalwahlkampf gestürzt. "Als wäre er selber der Kandidat", sagt der Meinungsforscher Adil Gür. CHP-Politiker meinen, der Premier habe Kilicdaroglus Botschaft als Gefahr erkannt. Beginnt jetzt der Herbst des Patriarchen Erdogan? "Die Korruption ist einer der verwundbarsten Stellen der AKP", sagt der Istanbuler CHP-Wahlstratege Gürsel Tekin.

Der Korruptionsvorwurf hat Gewicht, weil die AKP vor sieben Jahren mit dem Anspruch gegründet wurde, der Korruption den Kampf anzusagen. "Ak" heißt weiß oder rein auf Türkisch. Die Menge in Sultan Gazi buht jedes Mal, wenn Erdogans Name fällt. "Wir werden für mehr Aufrichtigkeit stimmen", ruft Kilicdaroglu. Die AKP-Leute füllten sich mitten in der Wirtschaftskrise die Taschen, sagt der Kandidat, dessen Buchhalter-Image den beabsichtigten Eindruck von Ehrlichkeit und Gesetzestreue unterstreichen soll.

Dennoch dürfte Kilicdaroglu am kommenden Sonntag in Istanbul scheitern. Jüngste Umfragen geben der CHP in Istanbul zwar bis zu 40 Prozent der Stimmen - das wären zehn Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl 2004. Doch Topbas, der sich in den vergangenen Jahren vor allem mit Verkehrsprojekten den Ruf eines Machers erarbeitet hat, kann mit bis zu 50 Prozent rechnen.

Landesweit sieht es ebenfalls danach aus, dass die AKP ihre beherrschende Stellung verteidigen kann. Allerdings hat Erdogan die Latte sehr hoch gelegt. Die Marke von 50 Prozent peilt der Premier für seine Partei im Landesdurchschnitt an, noch einmal zweieinhalb Prozentpunkte mehr als beim Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl 2007. Damals stand die AKP wesentlich besser da als heute. Sie hat mit der schlechten Wirtschaftslage und steigender Arbeitslosigkeit zu kämpfen - und mit Kilicdaroglus Korruptionsvorwürfen.

Sollte die AKP die 50-Pozent-Marke klar verfehlen oder sogar unter 40 Prozent sacken, was nach einigen Umfragen möglich ist, dann wird die Debatte über den Anfang vom Ende der Ära Erdogan beginnen. Die Kommunalwahl wäre in diesem Fall die erste Wahl in der Geschichte der 2002 gegründeten AKP, bei der die Erdogan-Partei ihren Stimmenanteil im Vergleich zur vorherigen Wahl nicht vergrößern könnte.

Ein AKP-Politiker in Ankara hat sogar schon die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen ins Gespräch gebracht. Ein Ergebnis von etwa 37 Prozent dürfe für die AKP nicht ohne Konsequenzen bleiben, forderte Fraktionsvize Nohat Ergün. Für Kilicdaroglu wird der Wahltag am Sonntag möglicherweise nicht die einzige Schlacht sein, die er gegen Erdogan schlägt.

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