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Türkei: Die mühsame Aufarbeitung politischer Morde

Als der türkische Staat in den 90er Jahren gegen die PKK kämpfte, verlor er jedes Maß. 9500 Menschen gelten in Südostanatolien seither als unauffindbar. Auch die Brüder von Aziz Taskaya und Cemal Babaoglu sind darunter. Ihre Gebeine könnten in dem Massengrab liegen, das Bauarbeiten nun zutage gefördert haben.

Es ist ein merkwürdiges Geräusch, das ihre Schritte hinterlassen. Ein Knirschen. Und wenn die Arbeiter auf der Baustelle am südlichen Stadtrand von Siverek nach unten blicken, auf ihre Stiefel, dann sehen sie das Unheil. Unter ihren Tritten zersplittern Knochen und die Gewölbe von Schädeln.

Er könne ja auch nichts dafür, sagt ein junger Bauschreiner, der die Bretterverschalung von den frischen Fundamenten für zwei Wohnblocks klopft. So dicht liegen im Untergrund die von den Baggern aufgewühlten menschlichen Gebeine verstreut, dass sich kaum ein Schritt tun lässt, ohne darauf zu treten. Selbst zwei ältere Herren, die neben der Baustelle in den Knochen herumstochern, können das nicht ganz vermeiden. Dabei geben sie sich größte Mühe.

Die Männer heißen Aziz Taskaya und Cemal Babaoglu, und beide suchen nach den sterblichen Überresten ihrer Brüder. Denn gebaut wird in einem Massengrab.

Überall in Südostanatolien, dem kurdisch besiedelten Teil der Türkei, kommen derzeit die Verbrechen der Vergangenheit an die Oberfläche – in verlassenen Minen werden sie entdeckt, in alten Brunnenschächten und in der Erde. Manchmal geschieht es aus Zufall, wie in Siverek, wo das Massengrab bei der Ausschachtung für einen Neubau entdeckt wurde. Immer öfter aber auch durch gezielte Grabungen, veranlasst von Staatsanwälten, die nach Jahren der Untätigkeit nun ermitteln und die staatlichen Verschleppungen, Folterungen und Morde der 90er Jahre aufarbeiten.

Zwei der Opfer dieses schmutzigen Krieges gegen die PKK waren Hüseyin Taskaya und Nazim Babaoglu, die vermissten Brüder der beiden Herren am Massengrab.

Hüseyin Taskaya, ein damals 44-jähriger kurdischer Unternehmer, wurde am 7. Dezember 1993 von einem Trupp staatstreuer kurdischer Milizionäre unter Befehl eines Armeeoffiziers aus seinem Haus in Siverek geholt und verschwand spurlos.

Nazim Babaoglu, ein 19-jähriger Student und Reporter einer kurdischen Zeitung, wurde am 12. März 1994 mit einem fingierten Anruf zu einem Treffen in Siverek bestellt, am selben Tag noch einmal in der Gewalt von Milizionären gesehen – und dann nie wieder.

Er sucht den Bruder seit 20 Jahren

„Ich suche meinen Bruder seit 20 Jahren“, sagt Aziz Taskaya, der heute selbst schon 46 Jahre alt ist und einen buschigen Schnauzbart trägt. „Ich habe alle Gerichte angerufen, alle Staatsanwälte und Behörden, habe alles versucht – aber wir haben bis heute keinen Knochen von ihm gefunden, nichts.“ In einer hellen Windjacke kauert Taskaya auf der Erde und schiebt Scherben von Schädelknochen zusammen wie ein Puzzle. Es ist heillos. Alleine, ohne Amtshilfe, wird er seinen Bruder auch nicht finden können.

Das Gelände war in den 90er Jahren ein bewaldetes Sperrgebiet, das von Armee und Milizen kontrolliert wurde und als Folterzentrum der Jitem bekannt war, jener berüchtigten militärischen Geheimdienstgruppe, die unter dem Etikett der Terrorbekämpfung im Kurdengebiet mit der Beseitigung von Dissidenten beauftragt war. „Hier stand damals nur ein Flachbau, ein umfunktionierter Stall, in dem wurde gefoltert und gemordet“, erzählt Babaoglu. „Wer hineingebracht wurde, der kam nie wieder heraus. Das wusste jeder.“

Noch heute hat Cemal Babaoglu Angst, hier herumzulaufen. Aber er hat sich die Suche nach den Vermissten zur Lebensaufgabe gemacht. Der 53-Jährige arbeitet für den türkischen Menschenrechtsverein IHD in der Provinzhauptstadt Urfa, wo alleine 300 Menschen aus jenen Jahren vermisst werden. Insgesamt beziffert der IHD die Zahl der unaufgeklärten politischen Morde jener Jahre auf 3500. Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt des Kurdengebiets, spricht sogar von 9500 unaufgeklärten Verbrechen. Mit einer interaktiven Landkarte dokumentiert der IHD im Internet den Stand der Aushebung von Massengräbern. Informanten können sachdienliche Hinweise geben.

Solchen Anregungen und vielen Zeugenaussagen ist es zu verdanken, dass immer mehr Täter vor Gericht gebracht werden – gerade noch rechtzeitig, denn die Verjährungsfrist für Mord beträgt in der Türkei 20 Jahre. Nur zwei Tage vor Ablauf dieser Frist klagte die Staatsanwaltschaft in Silopi im Sommer einen Brigadegeneral an, der im Juni 1993 sechs Zivilisten aus einem kurdischen Dorf erschießen ließ. Die Anklage stützt sich auf die Augenzeugenberichte von damaligen Soldaten. „Bringt diese Ehrlosen um“, befahl der General demnach. Die Leichen ließ er an einen Geländewagen binden und herumschleifen, bevor sie in einen Brunnenschacht geworfen wurden. In einem anderen Fall wurde ein 17-jähriger Hirtenjunge aus einem fliegenden Hubschrauber gestoßen.

Sie töteten ihn mit einem Kopfschuss - und sprengten die Leiche

Auf Augenzeugenberichte stützt sich auch ein Prozess, der derzeit in Eskisehir verhandelt wird. „Ich bin doch nur ein Hirte, ich habe Kinder, ich habe mit der PKK nichts zu tun“, flehte Nezir Tekci, der Schafhirte, laut Anklage, als er im April 1995 auf seiner Bergweide festgenommen wurde. Die Offiziere verlangten, er solle sie zu den Verstecken der Rebellen führen. Vier oder fünf Tage zerrte die Einheit ihn durch die Berge, bis die Offiziere einsahen, dass er nichts wusste – dann töteten sie ihn mit einem Kopfschuss und sprengten die Leiche.

„Wer von euch Gott liebt, wer ein Gewissen hat, der möge bitte aussagen“, beschwor der Vater des Hirten die früheren Soldaten der Einheit zu Prozessbeginn. Nur durch seine Bemühungen war es überhaupt zu dem Verfahren gekommen. Der alte Bergbauer hatte so lange nach Beteiligten gefahndet, bis er aussagewillige Augenzeugen ausfindig machte.

Am Massengrab in Siverek schüttelt Cemal Babaoglu verzweifelt den Kopf. Die Hinterbliebenen fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen. Als die Gebeine vor acht Wochen entdeckt wurden, meldeten sich 35 Familien, weil sie ihre vermissten Angehörigen hier vermuteten und DNA-Proben abgeben wollten. Die Staatsanwaltschaft verfügte einen Baustopp, und Knochenproben wurden zur Gerichtsmedizin nach Istanbul geschickt. Nichts werde angerührt, bis der Fall aufgeklärt sei, hieß es. Doch nun sind die gelben Bänder der Tatortabsperrung weggerissen und liegen verknäult am Baustellenrand.

Aus den Gruben sind meterhohe Betonfundamente gewachsen, und in den Erdwänden zeichnen sich die Konturen zahlreicher Skelette ab. Was sich aus dem Erdreich gelöst hat, liegt herum: zerbrochene Arm- und Beinknochen, zertretene Schädel, Kiefer und hunderte kleinere Knochen. Undenkbar, dass die Gebeine wieder zusammengefügt werden könnten, die Babaoglu bei seinem letzten Besuch noch vorgefunden hatte.

„Mein Vater soll zumindest ein Grab haben“, sagt der junge Bauer Mehmet Karakaya, wendet das Gesicht ab und schluchzt. Sechs Jahre alt war er, als Milizionäre seinen Vater Sefik Gecgel am 11. November 1993 holten, und noch immer steigen ihm die Tränen in die Augen, wenn er davon spricht. Seine Mutter hat ihn und seine acht Geschwister alleine großgezogen. Heute bewirtschaftet Mehmet Karakaya die väterlichen Felder selbst, hat eigene Kinder. Er sitzt im Büro eines Rechtsanwaltes in Siverek und lässt einen Antrag auf Einsicht in die Akten der Staatsanwaltschaft aufsetzen. Die Angehörigen wollen wissen, was die gerichtsmedizinische Untersuchung der Knochen aus dem Massengrab am Stadtrand ergeben hat.

Einige Prozesse sind eröffnet worden

Das Tabu, mit dem die früheren Verbrechen belegt waren, ist zwar gebrochen. Schon vor acht Jahren ordnete das Justizministerium an, die ungelösten Mordfälle energisch aufzuklären und zu verfolgen. Und tatsächlich sind auch einige Prozesse eröffnet worden. So muss sich seit 2009 Oberst Cemal Temizöz vor Gericht für das „Verschwindenlassen“ von 22 kurdischen Zivilisten in Cizre zwischen 1993 und 1995 verantworten. Einen Tag vor Ablauf der Verjährung nahm ein Gericht in Diyarbakir die Anklage gegen einen Brigadegeneral an, der im Oktober 1993 elf kurdische Zivilisten in Kulp ermordet haben soll. Anklagen sind gegen den damaligen Innenminister Mehmet Agar und die mutmaßlichen Mörder des kurdischen Journalisten Musa Anter erhoben worden.

Doch das ist ein schwacher Trost für tausende Familien, die sagen: „Ich kenne Tatzeit und Tatort, ich kann die Täter namentlich nennen. Ich habe mich an Polizei und Staatsanwaltschaft gewandt, an das Parlament und das Innenministerium, doch ich bekomme seit 20 Jahren keine Antwort.“ Ein einziger Staatsanwalt in Diyarbakir war bis vor kurzem für alle 9500 Fälle zuständig, die dort anhängig sind, darunter auch für die Vermissten von Siverek. Alle anderen Ankläger waren in den letzten Jahren damit beschäftigt, Sammelprozesse gegen hunderte kurdische Lokalpolitiker zu führen, die während der Verhaftungswellen der letzten Jahre festgenommen worden waren. Zu ihnen zählte auch Faik, ein weiterer Sohn aus dem Hause Taskaya, der im Juni nach zweijähriger Untersuchungshaft freigesprochen worden war. Erst seit Beginn der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK im vergangenen Jahr ist die Justiz im Südosten etwas entlastet. Die 9500 Fälle wurden nun auf zehn Staatsanwälte verteilt, die den Wettlauf gegen die Verjährungsfrist aufnehmen sollen.

Wegen des Massengrabs begibt sich Cemal Babaoglu zum Gerichtsgebäude von Siverek. Aber er hat an diesem Tag Schwierigkeiten, einen Ansprechpartner zu finden. Der noch vor sechs Wochen zuständige Staatsanwalt ist versetzt worden, angeblich auf eigenen Wunsch, sein Nachfolger hat den Fall bereits wieder abgegeben an jemanden, der heute freihat. Babaoglu landet schließlich beim Oberstaatsanwalt, der verwirrt reagiert. Der Bau sei doch gestoppt, die Fundstelle abgesperrt worden? Der Mann greift schließlich zum Telefon und weist die Polizei an, den Bau zu stoppen und das Grab künftig besser zu schützen.

Kein offener Bruch mit der Vergangenheit

Es fehle der Türkei noch immer am politischen Willen zur Aufklärung, glauben Cemal Babaoglu und Aziz Taskaya. Im Westen des Landes, weitab vom Kurdengebiet, wollen die Menschen nichts wissen davon, was hier geschehen ist, sagt Taskaya. Seine Familie lebt seit der Ermordung des Bruders in Istanbul und steht seit 1994 jede Woche bei der Mahnwache der sogenannten Samstagsmütter mit einem Bild von Hüseyin in der Fußgängerzone. „Die Leute glauben uns nicht“, sagt Taskaya. „Sie sagen: ‚Der Staat bringt doch nicht seine eigenen Bürger um.’“

Den offenen Bruch mit der Vergangenheit hat es in der Türkei nie gegeben. So sitzt der frühere Gouverneur von Urfa, der in die Ereignisse von Siverek verstrickt sein soll, heute für die Regierungspartei AKP im Parlament. Auch andere Politiker jener Jahre unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller haben sich hinüberretten können in die AKP-Regierung. Und selbst in Siverek, dessen führende Klans dem türkischen Staat im Krieg gegen die PKK als Schergen gedient haben, fürchtet mancher die Aufarbeitung der Vergangenheit. „Es ist nicht gut, diese Gräber zu öffnen“, sagt ein Lokaljournalist. „Man sollte das besser alles hinter sich lassen.“

Das zu verhindern, sind die Angehörigen entschlossen – und sie setzen dabei auf die Solidarität. In einem Massengrab bei Dargecit am Tigris wurden kürzlich die Gebeine des 13-jährigen Seyhan Dogan ausfindig gemacht. Der war am 29. Oktober 1995 von Soldaten verschleppt worden. Seine Eltern hatten zeitlebens nach ihm gesucht und sich dabei den Samstagsmüttern angeschlossen, standen mit dem Bild des Sohnes in der Fußgängerzone von Istanbul. Bis sie selbst nacheinander starben. „Wenn Seyhan jemals gefunden wird, dann begrabt uns zusammen“, lautete die letzte Bitte des Ehepaares an seine Mitstreiter. „Wenn wir uns schon in dieser Welt nicht wiederfinden, dann wollen wir im Grab zusammen sein.“

Im vergangenen Monat konnten die Samstagsmütter ihr Wort halten: Die sterblichen Überreste der Eltern wurden in Istanbul exhumiert und zusammen mit den Gebeinen des Kindes unter Anteilnahme der ganzen Kleinstadt in Dargecit beigesetzt. „Bei allem Schmerz freuen wir uns heute doch, ihm endlich ein Grab geben zu können“, sagte Seyhans Onkel bei der Beerdigung. „Wir wünschen uns, dass alle Familien der Verschwundenen das noch erleben können.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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