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Eine Frau zeigt bei einer Solidaritätskundgebung für den inhaftierten Kurden-Führer Abdullah Öcalan am Samstag in Diyarbakir das Victory-Zeichen. Unser Autor meint: Gewinnen kann den neuen Konflikt zwischen Türken und Kurden mit militärischen Mitteln keiner.

© Umit Bektas/Reuters

Türkei: Erdogans Grenzen

Erdogan kann einen langen Krieg mit den Kurden nicht wollen. Die Frage ist, ob er ihn noch stoppen kann. Eine Analyse.

Zwei Jahre lang hielt der Waffenstillstand zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK. In dieser Zeit wuchsen die Hoffnungen von Türken und Kurden auf eine friedliche Zukunft. Eine ganze Generation war im Schatten eines Krieges aufgewachsen, der 1984 begann und der viel Leid über das Land brachte. Mehr als 40 000 Tote, mehr als 3000 zerstörte Dörfer, mehrere Millionen Flüchtlinge, die aus dem Kurdengebiet nach Istanbul und bis nach Europa flohen. Die Türkei wollte all das hinter sich lassen in den zwei friedlichen Jahren. Doch jetzt droht ein neuer langer Krieg.

Seit zwei Wochen ermordet die PKK wieder türkische Soldaten und Polizisten. Ankara antwortet mit den schwersten Luftangriffen seit langer Zeit. Diesmal solle die Kurdenorganisation „erledigt“ werden, heißt es bei türkischen Regierungsvertretern.

Erdogan will mit dem Kampf gegen die Kurden vor allem Wählerstimmen zurückgewinnen

Wie oft haben die Türken das schon gehört. Dabei ist allen Beteiligten längst klar, dass die Kurdenproblematik nicht mit der Waffe zu lösen ist, weder von der türkischen Armee noch von der PKK. Nur eine politische Lösung kann am Ende den Durchbruch bringen. In den zwei Friedensjahren redete die Türkei mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan über die Bedingungen für eine solche Lösung. Man kann kritisieren, dass dabei zu viel taktiert und zu wenig entschlossen gehandelt wurde. Doch immerhin wurde geredet und nicht geschossen.

Beide Seiten müssen sich Vorwürfe gefallen lassen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich vom Friedensprozess abgewandt, weil er überzeugt ist, dass die Verhandlungen bei der Wahl im Juni für die Schlappe seiner Regierungspartei AKP sorgten. Die PKK bombt wieder, weil ihre Führung überzeugt ist, dass die türkische Regierung mit dem Islamischen Staat gemeinsame Sache gegen die Kurden macht.

Die neue Gewalt birgt das Risiko, dass junge Türken und Kurden den Hass auf den jeweils anderen auffrischen und dass damit die Grundlage für ein neues Jahrzehnt voller Krieg und Elend gelegt wird. Schließlich sehen die jungen Leute gerade dabei zu, wie ihre Chefs die Politik als Lösungsweg verwerfen und den Krieg wählen.

Erdogan könnte erleben, dass sein taktisches Manöver aus dem Ruder läuft

Erdogan könnte erleben, dass sein im Kern taktisch motiviertes Manöver – eskalierende Spannungen als Mittel des Wahlkampfes – aus dem Ruder läuft und in einen ausgewachsenen neuen Krieg mündet. Das droht vor allem dann, wenn die PKK sich entschließen sollte, zu landesweiten Massenprotesten aufzurufen und den Krieg aus Ostanatolien in die Metropolen wie Istanbul zu tragen. Im vorigen Jahr reichten Kurdenunruhen von ein paar Tagen, um Chaos anzurichten und mehr als 30 Menschen zu töten. Diesmal würde es wahrscheinlich schlimmer.

Das kann auch Erdogan nicht wollen, erst recht nicht so kurz vor der von ihm angestrebten Neuwahl im November. Deshalb wird die türkische Regierung möglicherweise bald mit einer militärischen Deeskalation beginnen, vielleicht geht sie auf das Vermittlungsangebot der nordirakischen Kurden ein.

Doch selbst wenn es gelingt, den neuen großen Krieg zu vermeiden, ist nicht klar, wie es auf lange Sicht weitergehen soll. Wenn beide Seiten nicht mehr in den politischen Prozess investieren, ist es bis zum nächsten blutigen Knall nur eine Frage der Zeit.

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