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Türkei: Feigheit, Schlampereien, Putschpläne

Der ehemals höchste Militär beschrieb den Zustand der Armee in geheimer Runde. Nun steht alles im Netz

Vorgesetzte, die ihre Leute mitten im Gefecht im Stich lassen. Einheiten, die Minenfelder anlegen, ohne zu notieren, wo sich die Sprengsätze befinden. Soldaten, die bei grundlosen Schießereien von der eigenen Truppe getötet werden. Eine Armeeführung, die Putschpläne gegen die Regierung ausarbeiten lässt und sich dann darüber beklagt, dass diese publik werden. „Unser Zustand ist eine komplette Schande“, sagt einer, der es wissen muss: Isik Kosaner, bis vor kurzem Generalstabschef der türkischen Armee.

So ungeschönt hat noch kein Uniformierter über Fehler, Feigheit, Schlampereien und Putschpläne bei den türkischen Streitkräften geredet. Kosaner tat es kurz vor seinem Rücktritt Ende Juli, und er fühlte sich sicher: Er sprach in einer nichtöffentlichen Runde vor Offizieren. Doch mindestens einer der Zuhörer ließ ein Bandgerät oder ein Handy mitlaufen und stellte die Tonaufnahme ins Internet. Nach tagelangem Zögern bestätigte Kosaner jetzt die Echtheit der Aufnahmen.

Eindringlich und ohne die sonst üblichen Floskeln von den „heldenhaften Streitkräften“ berichtete Kosaner von Soldaten, die von Minen zerfetzt wurden, von gedankenloser Ballerei, vom Chaos in der Befehlskette, von einem Mangel an Training und Koordination im Kampf gegen die PKK-Kurdenrebellen.

Schmerzlich waren die Worte des Exgenerals vor allem für jene Familien in der Türkei, die ihre Söhne als Wehrpflichtige bei der Gewalt im Kurdengebiet verloren haben. Erst seit relativ kurzer Zeit gibt es in der Presse hin und wieder Berichte über Verfehlungen der Militärs. So wurde der Armeeführung vorgeworfen, sie sei im Juli vergangenen Jahres dank der Bilder unbemannter Aufklärungsflugzeuge rechtzeitig über einen PKK-Angriff auf eine Militärstellung im südostanatolischen Hantepe informiert worden, habe aber nicht schnell genug reagiert. Damals starben sieben Soldaten, doch die Armee wies alle Vorwürfe von Fehlern zurück. Jetzt bestätigte Kosaner die Kritiker. Auch zu den Putschvorwürfen, die von der zivilen Justiz untersucht werden, äußerte sich Kosaner. Er sprach über den Plan „Balyoz“ (Vorschlaghammer), der laut Anlage 2003 bei einem Armeeseminar ausgearbeitet wurde und der den Sturz der damals frisch ins Amt gewählten, fromm-konservativen Regierung Recep Tayyip Erdogan vorsah. Bisher sagten Armee und Regierungsgegner, es gebe keinen solchen Plan. Kosaner bestätigte dessen Existenz nun indirekt: Es sei sein Skandal, das die „Balyoz“-Unterlagen an die Öffentlichkeit geraten seien, beschwerte er sich. Irgendein „Verräter“ bei der Armee habe das Material den „Schuften“ der anderen Seite zugespielt. Reue oder Unrechtsbewusstsein wegen der Putschpläne zeigte der Exgeneralstabschef nicht, im Gegenteil. Die Regierung könne Gesetze ändern wie sie wolle, die Armee werde sich immer als Garant der Republik betrachten, sagte er. Doch Kosaners politische Welt, in der die Militärs nach Belieben schalten und walten konnten, gibt es nicht mehr. Die Armee ist politisch stark geschwächt, und die Geständnisse des Generals erhöhen den Druck noch weiter.

„Das wird das Image der Armee weiter untergraben“, sagte der Kolumnist Yavuz Baydar dem Tagesspiegel. Die Türkei durchlaufe einen „Prozess der Demystifizierung der Streitkräfte“, die lange als Institution ohne Fehl und Tadel galten, ganz anders als die Politiker mit ihren für alle sichtbaren Schwächen und Fehlern. Nun werde auch die Armee auf den Boden der Realität geholt, sagte Baydar. Kosaner hat die „Demystifizierung“ selbst kräftig vorangetrieben. Als er zusammen mit fast dem gesamten Rest des Generalstabs Ende Juli aus Protest gegen die Verhaftung von Offizieren im Zusammenhang mit Putschvorwürfen zurücktrat, wollte er die Erdogan-Regierung bloßstellen und zum Einlenken bewegen. Der Plan schlug fehl, Erdogan beschaffte sich rasch einen neuen Generalstab, die Militärs erlitten eine weitere politische Niederlage.

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