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Türkei: Gefährliche Drohung gegen Armenier

In einem Interview sprach Erdogan über eine mögliche Ausweisung der in der Türkei lebenden Armenier – und löst Empörung aus.

Recep Tayyip Erdogan ist sich mal wieder keiner Schuld bewusst. Die Medien hätten seine Äußerungen verzerrt, sagte der türkische Premier am Freitag, nachdem seine Drohung, 100 000 Armenier aus dem Land zu werfen, eine Welle der Empörung ausgelöst hatte. Na bitte, kommentierte der Fernsehsender CNN-Türk ironisch: „Die Schuldigen sind gefunden – es sind die Medien.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogans undiplomatischer Stil für politische Irritationen sorgt.

Während eines Besuches in Großbritannien hatte Erdogan im türkischen Dienst der BBC über die Lage nach den jüngsten Armenier-Resolutionen in den USA und in Schweden gesprochen. Die Türkei hatte mit scharfer Kritik auf die Entschließungen reagiert und ihre Botschafter aus beiden Ländern zurückbeordert. Die Beziehungen der Türkei zu Schweden und den USA würden leiden, sagte Erdogan. Und dann fügte er hinzu: „In meinem Land gibt es 170 000 Armenier. Davon sind 70 000 unsere Staatsbürger, aber wir tolerieren die anderen 100 000.“ Bald wurde klar, worauf er damit hinauswollte: „Falls nötig, muss ich denen sagen, sie sollen in ihr Land zurückgehen. Ich muss sie nicht dabehalten.“

Armeniens Regierung warf Erdogan darauf vor, Erinnerungen an die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich wachzurufen. Nicht nur in Armenien ist das so. Die türkische Presse deutete Erdogans Äußerung als Drohung mit „Tehcir“ – das Wort bedeutet „Umsiedlung“ und ist der beschönigende, offizielle Begriff für die Vertreibung und Ermordung der Armenier im Jahr 1915. Zeitungskommentatoren warfen Erdogan vor, er betreibe mit dem Schicksal armer armenischer Migranten politische Erpressung: Wenn es im Westen noch weitere Armenier-Resolutionen geben sollte, so habe der Premier wohl drohen wollen, dann müssten die Armenier die Türkei verlassen.

Kaum einer glaubt daran, dass es tatsächlich so weit kommen wird. Ein Abtransport von Armeniern aus der Türkei würde alle Bemühungen Ankaras um eine Normalisierung der Beziehungen zu Eriwan und um eine Darlegung der eigenen Position im Streit um das Etikett Völkermord zunichte machen.

Auch die Opposition attackierte den Ministerpräsidenten, wenngleich nicht alle Kritik glaubwürdig ist. So warf die linksnationalistische Partei CHP dem Premier Rassismus vor – und verschwieg geflissentlich, dass die Forderung nach Ausweisung der Armenier zuerst aus ihren eigenen Reihen gekommen war.

Erdogan selbst gab der Presse die Schuld an der Aufregung um seine Äußerungen. Beim Thema Ausweisung habe er lediglich von illegalen armenischen Migranten gesprochen, doch diese Einschränkung sei von den Medien unterschlagen worden. Kritischen Zeitungskolumnisten warf Erdogan unpatriotisches Verhalten vor.

Vom Premier ist bekannt, dass ihm diplomatische Formulierungen nicht liegen und dass er hin und wieder ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer oder auf politische Konsequenzen lospoltert. In der Türkei hat sich die Öffentlichkeit nach sieben Jahren an den rauen Ton des Ministerpräsidenten gewöhnt. Viele Politiker zahlen mit gleicher Münze zurück.

In der Außenpolitik können Erdogans Äußerungen jedoch beträchtlichen Flurschaden anrichten. So warf er dem Partner Israel schon einmal „Staatsterror“ vor, kommentierte Integrationsbemühungen in Deutschland mit dem Satz „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und bezeichnete das chinesische Vorgehen gegen die muslimischen Uiguren im vergangenen Jahr als „Genozid“. Allerdings setzt Erdogan mit seinem Verzicht auf sprachliche Feinheiten auch positive Zeichen. Im Jahr 2005 wurde er zum ersten türkischen Ministerpräsidenten, der öffentlich von einem „Kurdenkonflikt“ sprach und damit ein jahrzehntealtes Tabu brach.

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