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Der türkische Präsident Erdogan

© AFP

Türkei: Im Zentrum der Konflikte

PKK, Syrien, EU, Russland: Das ausgehende Jahr war nicht leicht für die Türkei. Das nächste dürfte kaum leichter werden. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne die Türkei nach konfliktreichen Monaten einem ruhigeren Jahr 2016 entgegenblicken. Die Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat eine stabile Mehrheit, die Beziehungen zur EU haben neuen Schwung erhalten, und die Arbeit an einer neuen, demokratischeren Verfassung soll beginnen.
Allzu viel Hoffnung auf eine Verschnaufpause sollte sich das Land trotzdem nicht machen. Das Vorgehen der Behörden gegen unliebsame Journalisten und Kritiker, die wegen angeblicher Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor die Gerichte gezerrt werden, dürfte auch im neuen Jahr anhalten. Die Gefechte zwischen den türkischen Sicherheitskräften und den kurdischen PKK-Rebellen eskalieren. Gleichzeitig startet Erdogan einen neuen Versuch, seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Das Vorhaben ist äußerst umstritten – der Wahlkampf vor einem für die Umstellung notwendigen Referendum dürfte sehr heftig werden.

Die Türkei will im Gegenzug wesentlich mehr herausholen

Nicht nur in der Türkei selbst werden diese Themen für Spannungen sorgen. Auch das Verhältnis zur EU – gerade erst auf eine neue Basis gestellt, weil die Europäer die Hilfe der Türkei in der Flüchtlingsfrage brauchen – dürfte davon belastet werden. Zu den im neuen Jahr anstehenden Kapiteln des Verhandlungskatalogs im EU-Beitrittsprozess gehören unter anderem die Bereiche der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz. Ohnehin könnten die Beziehungen zur EU Probleme aufwerfen: Für Brüssel geht es in der neu vereinbarten Kooperation mit Ankara einzig und allein um die Senkung der Flüchtlingszahlen. Doch die Türkei will im Gegenzug wesentlich mehr herausholen, heißt es: nicht nur mehr Reisefreiheit für Türken in Europa, sondern auch eine klare Beitrittsperspektive.

Die zu erwarteten Meinungsverschiedenheiten mit der EU sind aber nichts dagegen, was der Türkei mit Blick auf den Syrien-Konflikt bevorsteht. Die Zahl der Flüchtlinge im Land wächst trotz der Abwanderung nach Europa immer weiter. In Syrien selbst muss sich die Türkei mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ihre Hauptziele – Ablösung von Präsident Baschar al-Assad, Errichtung eines möglichst sunnitisch geprägten neuen Systems und Verhinderung eines Kurdenstaates in Nord-Syrien – bei wichtigen anderen Akteuren großes Misstrauen hervorrufen.
Das gilt nicht nur für Russland und den Rivalen Iran, der als schiitische Regionalmacht den syrischen Präsidenten unterstützt. Auch die Haltung westlicher Partner widerspricht den türkischen Positionen: Die USA zum Beispiel arbeiten im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) eng mit den syrischen Kurden zusammen.

Selbst wenn das neue Jahr den Beginn von Friedensgesprächen für Syrien bringen sollte, wird die Türkei erst einmal weiter vor Problemen stehen: Die meisten Flüchtlinge dürften auf absehbare Zeit in der Türkei bleiben. Zudem wird vom IS weiter große Gefahr ausgehen. In dem Maße, wie die internationale Gemeinschaft mit türkischer Hilfe gegen die Dschihadisten vorgeht, wächst die Gefahr von Vergeltungsanschlägen der Extremisten in der Türkei. Das neue Jahr wird möglicherweise nicht so aufreibend wie das alte – doch ruhig dürfte es auch 2016 zwischen Bosporus und Ararat nicht werden.

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