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Neue Blickrichtung. Recep Tayyip Erdogan ist von Europa enttäuscht.

© AFP

Türkei: Schanghai statt Brüssel

Der türkische Premier Erdogan bringt ein Ende der EU-Bewerbung ins Spiel und sucht den Schulterschluss mit China und Russland.

Istanbul - Aus Frust über den Widerstand in Europa gegen die EU-Bewerbung seines Landes erwägt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen Beitritt der Türkei zu den sogenannten Schanghai Five, einer Organisation von China, Russland und mehreren zentralasiatischen Staaten.

„Neulich sagte ich Herrn Putin: Nehmt uns doch in die Schanghai Five auf“, erklärte Erdogan in einem Fernsehinterview. „Dann sagen wir der EU auf Wiedersehen.“ Auf Nachfrage betonte Erdogan, die Schanghai Five seien „besser und viel mächtiger“ als die EU. Der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, wie die Schanghai Five offiziell heißen, gehörten ursprünglich China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan an; als 2001 noch Usbekistan beitrat, wurde die Organisation umbenannt. Die Türkei ist seit dem vergangenen Jahr ein „Dialogpartner“ der Gruppe. Die Äußerungen dürften die Debatte über eine Loslösung der Türkei von ihrer traditionellen Westbindung neu anfachen. Sollte die Türkei ihre vor 50 Jahren begonnenen Bemühungen um Aufnahme in den Klub der westeuropäischen Demokratien tatsächlich aufgeben, wäre das eine Umorientierung, die beträchtliche geostrategische Konsequenzen nach sich zöge. So wies das US-Außenministerium in einer ersten Reaktion auf Erdogans Interview ausdrücklich auf die Nato-Mitgliedschaft Ankaras hin.

Erdogans Ankündigungen sind aber weniger als Anzeichen einer bevorstehenden Achsenverschiebung der türkischen Außenpolitik zu verstehen, sondern eher als Botschaft in Richtung EU. „Wir brauchen euch nicht“, habe Erdogan den Europäern klarmachen wollen, sagte die Istanbuler Politologin Beril Dedeoglu am Dienstag dem Tagesspiegel in Istanbul. Dedeoglu gehörte zu einer Gruppe von Journalisten und Intellektuellen, die Erdogan am Freitagabend im Nachrichtensender Kanal 24 befragten. In dem Interview sagte der Premier, die EU halte die Türkei seit Jahren hin, weil sie kein muslimisches Land aufnehmen wolle. Einige aufrichtige europäische Minister gäben das auch offen zu. Die Türkei selbst wolle den EU-Prozess „nicht vergessen“, betonte Erdogan. Wegen des Stillstands im Beitrittsprozess, der sich seit 2005 dahinschleppt, sei es aber seine Aufgabe als Regierungschef eines Landes mit 75 Millionen Menschen, über Alternativen nachzudenken.

In türkischen Regierungskreisen hieß es, Erdogan wolle die EU-Bewerbung nicht beenden. Es sei aber kein Geheimnis, dass es weit verbreiteten Frust wegen des schleppenden Fortgangs des Beitrittsprozesses gebe. Die wachsende Wirtschaftskraft der Türkei und der Aufstieg des Landes zur Regionalmacht sorgen zudem für ein Gefühl der eigenen Stärke. Fortschritte im Beitrittsprozess werden durch die skeptische Haltung in wichtigen EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich sowie den ungelösten Zypern-Konflikt verhindert. Erdogan sagte, die EU betrachte die Aufnahme eines muslimischen Landes als „Fehler“.

Europäische Diplomaten in Ankara spielten die Äußerungen herunter. Die Schanghai Five seien keine Organisation, die für die Türkei so bedeutsam sein könne wie die EU, sagte ein Vertreter eines EU-Landes. Wenn die Türkei glaube, der EU mit einem angedrohten Wechsel zu den Schanghai Five nun Angst einjagen zu können, dann täusche sie sich.

Die Politologin Dedeoglu rief dennoch dazu auf, Erdogans Erklärung ernst zu nehmen. Selbst wenn er nicht vorhabe, sich von der EU abzuwenden, sei es doch bedenklich, dass er offenbar kein innenpolitisches Risiko darin sehe, öffentlich über einen solchen Schritt zu reden. Laut einer kürzlichen Umfrage befürworten nur noch 33 Prozent der Türken das Ziel der EU-Vollmitgliedschaft; vor zehn Jahren lag die Unterstützung noch bei mehr als 70 Prozent. Thomas Seibert

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