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Erdogan

© dpa

Türkei: Suche nach einem neuen Stil

Der streitlustige türkische Premier Erdogan muss nach dem Urteil des Verfassungsgerichts in Ankara sein Temperament zügeln.

Nach dem Ende des Verbotsverfahrens gegen die Regierungspartei AKP hoffen die Türken auf den Beginn einer neuen Ära in Ankara. Mit seinem Verzicht auf ein Verbot der AKP habe das Gericht „neue Chancen“ geschaffen, sagte der Politologe Sahin Alpay. Wenn das Gericht eine verstärkte Konsenssuche in der türkischen Politik verlangt, wird sich vor allem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ändern müssen. Statt an dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy werde sich Erdogan künftig im Sinne der Konsensbildung eher an Bundeskanzlerin Angela Merkel orientieren, sagte Ex-Minister Bülent Akarcali dem Tagesspiegel. „Die ist auch sehr zielstrebig, aber gleichzeitig sehr sanft.“

Verfassungsgerichtspräsident Hasim Kilic hatte die politischen Parteien bei der Urteilsverkündung zu mehr Konsensarbeit aufgerufen – das Gericht sei es leid, ständig Probleme vor die Tür gelegt zu bekommen, die die Politiker nicht lösen könnten, sagte Akarcali. Erdogan und die AKP müssten sich in wichtigen Fragen wie dem Kopftuchstreit mehr als bisher um einen Konsens mit ihren Gegnern bemühen, hatten die Richter gefordert. Die Zeitung „Hürriyet“ fasste die Botschaft der Richter in einer kurzen Schlagzeile zusammen: „Einigt euch.“

Diese Forderung des Gerichts gilt nicht zuletzt für Erdogan persönlich. Der streitlustige Premier muss sein Temperament zügeln und darf nicht mehr wie bisher alle Sorgen und Ängste der Opposition ignorieren, so lautet der Konsens der Öffentlichkeit nach dem Urteil. Akarcali glaubt, dass der als leidenschaftlicher Parteipolitiker bekannte Erdogan, der normalerweise keinem Streit aus dem Weg geht, eingesehen hat, dass sein bisheriger Stil nichts bringt. „Seit der Wahl im vergangenen Sommer hat die AKP mit jeder staatlichen Institution in der Türkei Ärger bekommen“, sagte Akarcali. „Offenbar hat Erdogan verstanden, dass diese aggressive Haltung nichts fruchtet.“

In den Augen des Grünen-Europaabgeordneten Cem Özdemir hat nach dem Urteil des Verfassungsgerichts in Ankara allerdings nicht nur Regierungschef Erdogan eine Bringschuld; Özdemir verlangt Zugeständnisse der Europäischen Union an die Türkei in der Zypernfrage. Es wäre an der Zeit, bei den Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Ankara jene acht Beitrittskapitel zu öffnen, deren Verhandlung wegen des Zypernstreits ausgesetzt wurde, sagte Özdemir dieser Zeitung. Die EU hat acht Verhandlungskapitel eingefroren, solange die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge des EU-Mitgliedes Zypern nicht öffnet. Angesichts der Verhandlungsfortschritte zwischen griechischen und türkischen Zyprern auf der geteilten Insel „könnte die Europäische Union ein Zeichen setzen, indem sie beispielsweise das Handelsembargo gegen den Inselnorden aufhebt“, sagte der Grünen-Politiker weiter. Nach Özdemirs Worten ist die Türkei nach dem Urteil des Gerichts in Ankara unterdessen mehr denn je aufgefordert, ihre Verfassung zu ändern. Die Frage der Verfassungsreform sei auch entscheidend für das Tempo der Beitrittsgespräche zwischen der EU und Ankara. Zudem forderte Özdemir, dass die Voraussetzungen für innerparteiliche Demokratie in der Türkei geschaffen werden müssten. Es gebe in der Türkei „Diktaturen von Parteivorsitzenden, die innerhalb ihrer Parteien schalten und walten können, wie sie wollen, inklusive der Auswahl ihrer Kandidaten“.

In den Gesprächen zwischen Brüssel und Ankara über einen EU-Beitritt der Türkei sind bislang lediglich acht der insgesamt 35 Verhandlungsbereiche eröffnet worden. Nach den Angaben des französischen Europa-Staatssekretärs Jean-Pierre Jouyet will der gegenwärtige Pariser EU-Vorsitz bis zum Ende des Jahres zwei bis drei weitere Kapitel öffnen. Allerdings legt Frankreichs Präsident Sarkozy weiterhin sein Veto gegen die Öffnung entscheidender Verhandlungsbereiche ein, darunter das Kapitel der Wirtschafts- und Währungspolitik.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), deren Partei sich ähnlich wie Sarkozy für die Türkei eine „privilegierte Partnerschaft“ statt einer EU-Vollmitgliedschaft wünscht, zeigte sich erleichtert über das Urteil des Verfassungsgerichts. Auch EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sprach angesichts des Richterspruchs „von einem guten Tag für die Türkei und für Europa“. Aber auch wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Ankara, die AKP nicht zu verbieten, in der EU überwiegend positiv aufgenommen wurde, ließen sich die tatsächlichen Auswirkungen für die Beitrittsgespräche am Donnerstag noch nicht absehen. In einer Erklärung des französischen EU-Vorsitzes hieß es nur, die Europäische Union werde die demokratischen Institutionen und die Lage der Türkei weiter aufmerksam verfolgen.

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