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Politik: Türkei verabschiedet sich vom „Türkentum“

Mit Rücksicht auf die Europäische Union ändert das Parlament in Ankara einen umstrittenen Strafrechtsparagrafen

Nach langem Zögern hat die Türkei ein Gesetz geändert, das in Europa zum Inbegriff mangelnden Reformwillens in Ankara geworden war. Am Mittwoch beschloss das Parlament mit den Stimmen der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine Liberalisierung des berüchtigten Paragrafen 301 des Strafgesetzbuches. Unter anderem verschwindet der Begriff des „Türkentums“, der von Nationalisten als Hebel zur gerichtlichen Verfolgung unliebsamer Meinungsäußerungen eingesetzt worden war. Ironischerweise war der Paragraf 301 vor drei Jahren im Rahmen einer Strafrechtsreform eingeführt worden, als Liberalisierung vorheriger Vorschriften. Doch obwohl das Gesetz ausdrücklich feststellt, dass Kritik an staatlichen Institutionen straffrei bleiben muss, nutzten Nationalisten in der Justiz den Paragrafen, um kritische Äußerungen zu verfolgen, besonders wenn es um die Armenierfrage, das Kurdenproblem und die politische Rolle der Armee ging.

Streit und Debatten über notwendige Veränderungen im Land oder über dunkle Kapitel der Vergangenheit gelten den Nationalisten als potenziell staatszersetzende Aktionen. Die Annahme, die Republik sei ständig inneren und äußeren Angriffen ausgesetzt, stammt aus der Gründungszeit der modernen Türkei in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und ist zu einem Bestandteil der Staatsideologie erstarrt. Rund zweitausend Angeklagte mussten seit 2005 wegen des Paragrafen 301 vor Gericht erscheinen, darunter Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink, der kurz nach seiner Verurteilung ermordet wurde.

Der jetzt beschlossenen Änderung zufolge müssen Staatsanwälte künftig eine Genehmigung des Justizministeriums in Ankara einholen, wenn sie ein Strafverfahren nach dem Paragrafen 301 eröffnen wollen. Der Begriff des „Türkentums“ wird gestrichen und durch die etwas konkretere „türkische Nation“ ersetzt.

Für die kemalistische und nationalistische Opposition im Parlament ist die Novelle ein Beweis dafür, dass die AKP-Regierung zum reinen Erfüllungsgehilfen der Europäer geworden ist. Nur auf Druck der EU sei die Vorlage überhaupt ins Parlament gekommen, schimpfte ein Abgeordneter der Kemalistenpartei CHP. Ein Vertreter der nationalistischen MHP sagte, Erdogan erkaufe sich mit der Änderung die Unterstützung der EU im derzeitigen Verbotsverfahren gegen die AKP. Die EU begrüßte Gesetzesänderung und forderte weitere Reformschritte. Das türkische Reformlager bezweifelt aber, dass der Abschied vom „Türkentum“ und die anderen Änderungen am Paragrafen 301 zu mehr Meinungsfreiheit führen werden. Zwischen „Türkentum“ und der „türkischen Nation“ gebe es doch überhaupt keinen Unterschied, sagt der Istanbuler Politologe und EU-Experte Cengiz Aktar. Zudem gebe es zwei Dutzend weitere Gesetze, die ähnlich wie der „301“ die Meinungsfreiheit einschränkten.

Auch die Istanbuler Menschenrechtsanwältin Eren Keskin glaubt nicht an einen Durchbruch in Sachen Meinungsfreiheit. Die Juristin, die unter anderem wegen eines Interviews im Tagesspiegel nach Paragraf 301 verurteilt wurde, bezeichnete die Änderung als „Show“. Zwar würden nun die Unterlagen der noch laufenden Verfahren an das Justizministerium nach Ankara geschickt. Doch zumindest bei den Prozessen gegen sie selbst rechne sie fest damit, dass das Ministerium die Fortsetzung der Verfahren erlauben werde.

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