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Türkei: Verfassungsreform spaltet das Land

In vier Wochen, am 12. September, stimmen die Türken in einem Referendum über eine Verfassungsreform ab, die das Land spaltet. Wer ja sagt, gehört zur Regierungsfraktion.

Ja zu sagen, ist in der Türkei derzeit eine hochpolitische Angelegenheit, ob man will oder nicht. In vier Wochen, am 12. September, stimmen die Türken in einem Referendum über eine Verfassungsreform ab, die das Land spaltet. Sagt man Ja, gehört man zur Regierungsfraktion. Nein sagt das Oppositionslager. Selbst in ganz privaten Lebensbereichen wird inzwischen auf die richtige Wortwahl geachtet, zuweilen mit absurden Resultaten. Bei der Hochzeit des Sohnes eines Oppositionspolitikers im westtürkischen Izmir verzichtete das Brautpaar jetzt sogar auf das traditionelle „Ja“ bei der Trauung: Braut und Bräutigam hauchten stattdessen ein unromantisches „Ich stimme zu“.

Mit der Verfassungsreform wird die Türkei demokratischer, sagt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Seine religiös-konservative Regierungspartei AKP hatte das Paket aus mehr als 20 Verfassungsänderungen im Mai durchs Parlament geboxt, das Verfassungsgericht ließ es im Juli mit kleineren Abstrichen passieren. Die Änderungen sehen unter anderem weitere Einschränkungen der politischen Macht der Militärs, eine Besserstellung von Frauen sowie eine Stärkung des Streikrechts vor. Zudem soll der Weg für eine Strafverfolgung der noch lebenden Anführer des letzten Militärputsches frei gemacht werden – die Volksabstimmung findet exakt am 30. Jahrestag des Staatsstreiches vom 12. September 1980 statt.

Obwohl vieles in dem Paket konsensfähig ist und obwohl die EU den Reformen ihren Segen gab, rufen alle großen Oppositionsparteien ihre Anhänger auf, beim Referendum mit Nein zu stimmen. Die Kemalisten, die Erdogan als Islamisten betrachten, stoßen sich an einer im Paket enthaltenen Justizreform. Diese sei ein Versuch, die Justiz der Regierung zu unterwerfen, sagen sie. Die Rechtsnationalisten kritisieren, das Paket sei auf Druck von USA und EU entworfen worden. Die Kurdenpartei BDP ruft zum Boykott auf, weil sie die Interessen der Kurden zu wenig berücksichtigt sieht. Kämpfer der PKK-Kurdenrebellen stoppten in den vergangenen Tagen einige Reisende auf einsamen ostanatolischen Straßen und warnten sie davor, mit Ja zu stimmen.

In Wahrheit geht es aber mehr um Parteipolitik als um verfassungsrechtliche Fragen. Wenn das Paket trotz des geballten Widerstands der Opposition angenommen wird, kann die AKP ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen ihre Vormachtstellung in der türkischen Politik weiter ausbauen und festigen. Wird das Paket aber abgelehnt, wäre die Erdogan-Regierung angezählt.

Dieser Charakter einer Generalabrechnung zwischen Regierung und Opposition verleiht der politischen Auseinandersetzung vor dem Referendum eine Schärfe, die weit über den Streit über die Inhalte des Verfassungspakets hinausgeht. Mitten im Sommer ziehen Erdogan und die Chefs der Oppositionsparteien wie im Wahlkampf durch das Land, um für ihre jeweiligen Positionen zu werben. Nach der jüngsten Umfrage liegen die Befürworter des Reformpakets mit 56 zu 44 Prozent vorne. Aber entschieden ist das Rennen noch nicht.

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