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Politik: Türkischer Spagat

Angesichts der drängenden Kurdenproblematik im Irak rückt das Thema EU-Beitritt in den Hintergrund

„Das Irakproblem ist für uns inzwischen wichtiger als der EU-Prozess.“ Mit diesem Satz schreckte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu Jahresbeginn seine Landsleute auf. Steht das Land vor einer grundsätzlichen Kursänderung in der Außenpolitik? Wendet sich das Land von Europa ab und dem Orient zu?

Nein, sagt Ankara. Die langfristigen Interessen des Landes lägen nach wie vor in Europa, heißt es in türkischen Regierungskreisen. Ankara arbeitet sogar an einer neuen „Road Map“ für den weiteren Weg nach Europa. Erdogans Äußerungen sagen trotzdem viel darüber aus, wie die Türken im Jahr 2007 die Welt sehen: Die EU ist mehr oder weniger zur Routine geworden. Gemessen an den Gefahren, die durch den Bürgerkrieg im Nachbarland Irak drohen, sind die EU-Probleme für die Türkei politischer Kinderkram.

Die Atmosphäre zwischen Ankara und Washington wird folglich immer ungemütlicher. So will sich Erdogan von den USA nicht verbieten lassen, im kurdisch beherrschten Nordirak einzugreifen, wenn sich dort ein Kurdenstaat bilden sollte. Erdogan wies jetzt in ruppigem Ton die Forderung amerikanischer Diplomaten zurück, die Nachbarländer Iraks sollten sich aus den inneren Angelegenheiten des Landes heraushalten. „Ist es etwa keine Einmischung in innere Angelegenheiten, wenn die USA aus einer Entfernung von mehreren tausend Kilometern Entfernung nach Irak kommen?“, fragte Erdogan. Die Türkei habe immerhin eine 350 Kilometer lange Grenze mit Irak.

Erst vor einigen Tagen hatte Erdogan die Amerikaner und die Iraker gewarnt. Insbesondere die Entwicklung in der nordirakischen Ölstadt Kirkuk sei besorgniserregend. Ankara wirft den Kurden vor, Kirkuk mit einer gezielten Ansiedlungswelle zu einer kurdischen Stadt machen zu wollen. Dahinter steht die Befürchtung, das Öl von Kirkuk könne einen nordirakischen Kurdenstaat wirtschaftlich lebensfähig machen. Zudem können sich die türkisch-kurdischen Rebellen von der PKK nach wie vor im Nordirak verstecken. Angesichts dieser Probleme werde die Türkei „nicht tatenlos zusehen“, sagt Erdogan. Außenminister Abdullah Gül legte jetzt noch einmal nach. Irak sei die größte Gefahrenquelle für sein Land, sagte er. Wenn das Nachbarland auseinanderbrechen sollte, würde das für die Türkei große Probleme schaffen.

Damit meinte Gül nicht nur die mögliche Entstehung eines Kurdenstaates, sondern auch neue Flüchtlingswellen. Anfang der neunziger Jahre hatte die Türkei schon einmal den Ansturm von mehreren hunderttausend Menschen aus Irak verkraften müssen.

Schon jetzt ist der Irak für die Türken eine „Schmerzensnation“, wie eine Zeitung nach dem Tod von zwei Dutzend türkischen Arbeitern bei einem Flugzeugabsturz bei Bagdad vor einigen Tagen formulierte. Fast 200 türkische Staatsbürger fanden seit Beginn des Krieges vor vier Jahren im Irak den Tod. Viele türkische Politiker benutzen das Bild vom brennenden Nachbarhaus. Angesichts der Dringlichkeit des Irakproblems ist es kein Wunder, dass das Thema Europa für die Türken etwas in den Hintergrund rückt. Zumindest einigen EU-Experten der Regierung ist das nicht einmal unrecht. Das würde die Chance eröffnen, im Schatten der Irakkrise ohne großes Getöse in Sachen Europa weiterzukommen, sagt ein türkischer Spitzendiplomat: „Wir kennen schließlich unsere Hausaufgaben.“

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